06.04.2017

«Die Kirche braucht es»

Von Anne Burgmer

«Wozu braucht es die Kirche noch?» – In Anlehnung an eine Diskussion in Solothurn am 29. März 2017, fragte Horizonte mit Blick auf den Aargau Kirchenräte, Seelsorgende und einen Freidenker.

Die katholische Kirchenrätin Claudia Chapuis, die das Ressort Diakonie, CARITAS und Sozialrat betreut, antwortet auf die Frage, ob es denn die Kirche noch brauche, ohne Einschränkung mit «Ja» und begründet das mit dem breiten sozialen Engagement der Kirchen. Hinzu komme, dass es «die Aufgabe der Kirche ist, das soziale Gewissen der Menschen anzusprechen und dezidiert Stellung für Mensch und Umwelt zu beziehen».

«400 000 Gläubige im Aargau reichen als Rechtfertigung»

Die Reformierte Pfarrerin am Mutschellen, Corinne Dobler, bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel: «Der Kern der Kirche ist die Botschaft des Evangeliums: Achte die Schöpfung, achte Gott als den Urheber der Schöpfung. Lerne dich selbst zu lieben und deine Mitmenschen. Die Kirche braucht es solange, wie die Welt nicht nach diesen Grundsätzen lebt und es braucht sie als Stimme der Ausgestossenen und Schwachen.»

Für Luc Humbel, Kirchenratspräsident der Katholischen Landeskirche im Aargau, erübrigt sich die Frage mit Blick auf 400 000 Menschen, die sich im Aargau zum christlichen Glauben bekennen: «Wieso sollte es bei dieser Anzahl keine Kirchen brauchen?»

Das Problem sind konfessioneller Zwang und Mission

Anders sieht das Valentin Abgottspon, Vizepräsident der Freidenkervereinigung Schweiz und Kämpfer für eine Trennung von Kirche und Staat. «Es gibt Leistungen von Kirchen, sozialer oder kultureller Art, an denen wir Freidenkerinnen und Freidenker nichts oder nur wenig auszusetzen haben. Doch bei vielen dieser eigentlich guten Taten und Institutionen ist leider mehr oder weniger Mission drin. Einer katholischen Schwangerschaftsberatung traue ich keine weltanschaulich neutrale Haltung zu. In vielen Kantonen werden solche Stellen aber nicht von Kirchensteuern, sondern über die Steuern von allen finanziert. Damit sind Konfessionsfreie gezwungen, konfessionell getragene Institutionen oder Stellen mitzufinanzieren.»

Staatlich finanzierte Angebote, so Valentin Abgottspon, müssten vonseiten des Staates ausgeschrieben werden. Ein klarer Leistungsauftrag müsse sicherstellen, dass ohne Mission gearbeitet werde. «Können die Kirchen diese Vorgaben einhalten, sollen sie anderen Dienstleisterinnen gegenüber nicht diskriminiert werden. Auf der individuellen Ebene soll jede und jeder selber entscheiden, ob er oder sie die Kirche braucht und mitfinanzieren will. Für mich persönlich lautet die Antwort da Nein», positioniert sich der Freidenker.

«In der Krise ist die kirchliche Institution»

Dass die Frage nicht einfach zu beantworten ist, wird deutlich, wenn Christoph Cohen, Diakon und Leiter des Pastoralraums «Am Rohrdorferberg», sagt: «Wir sind eine christlich geprägte Gesellschaft, der christliche Glaube ein Anliegen vieler Menschen – in der Krise ist die kirchliche Institution».

Auch der Reformierte Pfarrer Lukas Stuck, Zofingen, unterscheidet zwischen Institution und Inhalt: «Die Kirchen werden in nächster Zeit ärmer und kleiner, das kann eine Chance sein. Die Kirchen werden nicht mehr als mächtige Institutionen gefragt sein. Ich erlebe aber, dass das Interesse an Glaubensfragen und Seelsorge eher grösser wird. Es wird also nicht Institutionen brauchen, sondern Menschen, die bereit sind für andere da zu sein.»

«Unser Ziel sollte nicht mehr sein, die übergrossen Kirchen füllen zu wollen, wie es nur noch bei Firmungen oder anderen Hochfesten möglich ist», erklärt Claudia Chapuis. «Es fehlen meist gute Angebote für kleine Gruppen Gleichgesinnter. Gleiches gilt für die Medienberichterstattung. Das Pfarrblatt Horizonte ist leider nicht sehr ansprechend gestaltet und wird von der jüngeren Generation nicht gelesen», kritisiert Claudia Chapuis.

«Es braucht eine mutige, unangepasste, glaubwürdige Kirche»

Die reformierte Pfarrerin Corinne Dobler wagt – quasi als eine Art Gegensatz zur Selbstkritik – eine Vision: «Mir schwebt eine Kirche vor, die ihre Angst vor dem Zugrundegehen, vor finanziellen Einbussen, vor Austritten und ähnlichem immer wieder loslässt und ganz auf die Kraft ihrer Botschaft vertraut, mutig ist, klar und unangepasst». Dazu gehört nach Auffassung von Kirchenratspräsident Luc Humbel aber auch: «tagtäglich glaubwürdiges Handeln im Umgang mit kirchlichen Geldern».

Die Freidenker-Vereinigung Schweiz hat sich derweil von Beginn an die Trennung von Staat und Kirche zum Ziel gesteckt. Das bedeute vor allem, so heisst es auf der Homepage, den Verzicht auf die finanzielle Unterstützung der Kirchen mit staatlichen Geldern und die Abschaffung der Erhebung von Kirchensteuern durch den Staat. Weiter gehe es um den Verzicht auf religiöse Symbolik im staatlichen Bereich und das Ende religiösen Unterrichts durch staatliche und in staatlichen Schulen.

Die Trennung von Kirche und Staat, so Valentin Abgottspon, sei aber nur eine Facette der Freidenkerei, auch, weil es in den meisten Kantonen unbestritten sei, dass die kultischen Zwecke der Kirche alleine von Kirchenmitgliedern bezahlt werden sollen. Den Freidenkern gehe es auch um einen grundlegenden Humanismus auf der Basis der Menschenrechte, um Hilfe für Menschen denen es nicht gut gehe oder um die Entwicklung guter, religionsfreier Rituale wie Hochzeiten oder Abschiedsfeiern.

Trennung von Kirche und Staat eine Frage der Zeit?

«Wir haben in der Schweiz mit einem friedlichen Miteinander derart gute Erfahrungen gemacht, dass es keine Gründe gibt, die vielen Vorteile für beide Seiten in Frage zu stellen», entgegnet Luc Humbel. Claudia Chapuis vermutet, dass bei einer vereinsähnlichen Struktur die freiwilligen Mitarbeitenden noch belasteter wären. Zudem bestünde die Gefahr, dass die in den letzten Jahren vielerorts gewonnene Professionalität der Kirchgemeinden verloren gehen könnte.

Auch Christoph Cohen erachtet eine Trennung von Kirche und Staat «als nicht wünschenswert», vermutet aber, dass «es bei der jetzigen Tendenz des gesellschaftlichen Denkens nur eine Frage der Zeit ist. Unsere Kirche tut durch ihr Verharren im Status quo das ihre dazu».

Die Frage nach der Trennung von Kirche und Staat werfe überdies Fragen nach der Finanzierung oder der Feiertagsregelung auf und sei vermutlich nicht so einfach durchzuführen, glaubt Corinne Dobler. Sie sagt allerdings auch: «Ich denke, dass eine solche finanzielle Trennung kommt, sobald wir Reformierten und Katholiken nicht mehr eine Mehrheit in der Gesellschaft repräsentieren. Die Vor- und Nachteile kann ich nicht abschätzen – da lasse ich mich überraschen.»

 

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