29.09.2016

Die Kunst ist es, das Potential richtig zu nutzen

Von Anne Burgmer

Sechs Orte der Barmherzigkeit besucht Felix Gmür im Jahr der Barmherzigkeit 2016. Am 27. September fand der fünfte dieser Besuche in Aarau statt. Dort ist das Netzwerk Asyl Aargau mit verschiedensten Angeboten in der Arbeit mit Flüchtlingen tätig. Zentrales Thema: Kontakt finden.

«Barmherzigkeit heisst nicht einfach, von oben herab ‚Gutes zu tun‘, sondern auch, zu schauen, was mein Gegenüber mitbringt und geben kann. Zu dieser Haltung gehört Gerechtigkeit, und dazu braucht es auch gesellschaftspolitisches Engagement. Barmherzigkeit hat mit Empowerment zu tun. Das wird hier im Offenen Pfarrhaus gemacht», fasst Felix Gmür vor der Zvieri-Pause zusammen.

Aus Tradition ein offenes Haus

Doch vor dem Zvieri steht Geschichtliches und reger Austausch. Esther Wyss, seit  2009 im Offenen Pfarrhaus tätig, gibt einen Einblick in die Geschichte des über 200 Jahre alten Hauses. Ursprünglich für einen Seidenfabrikanten gebaut, wurde es 1939 von der Katholischen Kirche gekauft. «Eine meiner Quellen, die ich befragt habe, sagte, das Haus sei schon immer ein offenes Haus gewesen, wobei das heisst, seit 1976 – solange arbeitet die Quelle nämlich hier», erzählt Esther Wyss, die auch Kontaktfrau zum Netzwerk Asyl ist.

Bis zum Umbau im Jahr 2003 lebten immer Pfarrer oder nicht geweihte Seelsorger im Haus – ein Umstand, der es mit sich bringt, dass Menschen klopfen, kommen und gehen. Nach dem Umbau mietete die Caritas den zweiten Stock, der erste Stock beherbergt Büros und Sitzungszimmer. Das Pfarrhaus ist eben auch Haus der lebendigen Pfarrgemeinde Peter und Paul Aarau.

Netzwerk Asyl Aargau und seine Angebote

Jan Götschi, der seit August im Offenen Pfarrhaus arbeitet, ist nun damit beauftragt, ein Konzept für das Offene Pfarrhaus zu erarbeiten und umzusetzen. «Besonders aktiv im Offenen Pfarrhaus ist das Netzwerk Asyl, welches hier zweimal wöchentlich den Asyltreff ‚‚Contact‘‘ betreibt», erklärt er den Anwesenden, und listet weitere Aktivitäten der Nonprofit-Organisation in Aarau auf: «Kleiderbörse, Sportangebote, das ‚Programm BBB –  Asyl mit Bildung, Begegnung und Beschäftigung‘, sogar eine Schule für 40 Unbegleitete Minderjährige (UMAs). Weiter ist das Netzwerk Asyl eine Drehscheibe für Freiwillige und engagiert sich politisch im Asylwesen».

Lange dabei ist auch Max Heimgartner, reformierter Pfarrer im Ruhestand. Er koordiniert die 20 Deutschkurse, die von rund 30 Freiwilligen für Asylsuchende gegeben werden. «Der ‚Contact‘ entstand 2004 auch aus der Erkenntnis heraus, dass hier nicht alles gut ist. Einerseits gab es eine stete Verschärfung des Asylgesetzes und andererseits wurde ein Ort notwendig, wo die Asylsuchenden Ansprechpartner, Hilfe und Gastfreundschaft, eine Wohnung für die Seele finden konnten», erinnert sich Max Heimgartner. Der ‚Contact‘ sei auch eine Art Ideennest. Vorrangig ist allerdings für Max Heimgartner, dass die Möglichkeit besteht, die Landessprache Deutsch zu erlernen.

Darin sind sich alle Anwesenden einig: Wer die Sprache beherrscht, hat die Chance, Kontakt aufzunehmen, macht es auch den Einheimischen leichter, auf die Asylsuchenden zuzugehen und hat die Chance, sich zu integrieren.

Club Asyl Aarau schreibt einen Brief an die Aargauerinnen und Aargauer

Doch was bedeutet das Offene Pfarrhaus den Menschen, die es nutzen? Aus dem Programm BBB entstand der Club Asyl Aarau, in dem «etwas gelebt wird, was noch wenig praktiziert wird», wie Rahel Wunderli, Projektleiterin des Programm BBB und des Club Asyl, sagt. «Der Club Asyl besteht aus 20 Flüchtlingen, die in ihrer Integration bereits fortgeschritten sind. Diese Menschen helfen uns Einheimischen bei der Betreuung der Neu-Angekommenen und bei anderen Aufgaben», erklärt sie und fragt dann die vier anwesenden Mitglieder des Clubs: «Was bedeutet euch dieses Haus?»

Die Antworten zeigen: Die Kontaktmöglichkeiten, auch über den Sprachunterricht hinaus, sind unschätzbar. Subajini aus Sri Lanka ist seit vier Jahren in der Schweiz und sagt: «Zwei Jahre war ich ohne Kontakt. Dann zog ich nach Aarburg und hörte von dem Ort hier. Jetzt habe ich viele Kolleginnen und fühle mich hier in einer offenen Welt». Berhe aus Eritrea erklärt: «Das hier ist der erste Ort, wo wir hingehen, wenn wir ins Erstaufnahmezentrum in Buchs kommen.  Hier treffen wir andere Flüchtlinge und Schweizerinnen und Schweizer und finden Hilfe. Dafür bin ich sehr dankbar».

Doch die vier sind nicht einfach nur dankbar – sie wollen etwas zurückgeben und haben das bereits getan. «Mein Geschenk für die Schweiz» hiess eine Ausstellung zum Weltflüchtlingssonntag im Jahr 2015 und dieses Jahr hat der Club Asyl Aarau einen offenen Brief an die Aargauerinnen und Aargauer geschrieben. «Wir haben aus den Medien erfahren, wieviel Schlechtes über uns berichtet wird. Und wir wollten erklären, dass wir nicht alle so sind. Auch wollten wir unsere Sicht auf die Flüchtlingsthematik darlegen», sagt Subajini. Der Brief wurde dem Parlament übergeben. Zwar habe es keine direkten Reaktionen gegeben, so Rahel Wunderli, doch man sehe an verschiedenen Vorstössen, dass sich politisch ein paar Dinge bewegen.

Was die Kirche noch machen könnte

Ein oder zweimal geht die Frage in Richtung Felix Gmür, «ob man bei euch» (also der Kirche) nicht noch mehr machen könne. «Was heisst da bei euch?», gibt Felix Gmür zurück. «Dieses Pfarrhaus ist ja ‚bei uns‘. Kirche kann nicht zentral steuern. Wir können wohl zentral ermutigen. Das ist das eine. Das andere ist  – und das machen wir betend – wir dürfen diese Menschen nicht vergessen. Wir erinnern! Flüchtlinge dürfen keine Randnotiz werden. Ein weiteres sind meine Besuche – das ist Werbung für diese Orte der Barmherzigkeit. Und es ist die Aufgabe von Kirche, Pfarrgemeinden und Einzelnen, zu schauen, ‚Was ist meine Aufgabe?‘, wenn ich zum Beispiel Geld habe, oder Liegenschaften oder Zeit. Bereits vor einem Jahr haben wir zwölf Flüchtlinge bei uns im Solothurner Bistumssitz aufgenommen. Die Kunst ist es, das Potential richtig zu nutzen. Und schlussendlich ist die Kirche Multiplikatorin und Vermittlerin. Wir hören zu und vermitteln.»

Nach der Begegnung in der Runde und im ‚Contact‘ wiederholt Felix Gmür diese Aussage in der Abschlussandacht auf etwas andere Art. Er zitiert aus der Bibel: «Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht» (Jak 2, 13b). Ein Gericht, egal welches, ziehe einen Schlussstrich, erklärt er. Die Barmherzigkeit aber kenne kein Ende.

Verein Netzwerk Asyl

 

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