16.06.2016

Kleines Dorf mit grossem Herz

Von Roger Wehrli und Andreas C. Müller

Riace, ein kleines Dorf im italienischen Süden öffnete seine Tore für Flüchtlinge und konnte auf diese Weise den Bevölkerungsschwund wirksam bekämpfen. Auch im Aargau gibt es Gemeinden, deren Einwohnerzahlen rückläufig ist. Horizonte ging am Beispiel von Schlossrued der Frage nach, ob das italienische Erfolgsbeispiel auch für die Schweiz taugt.

Don Batista Masini würde den Bürgermeister von Riace, Domenico Lucano, am liebsten für den Friedensnobelpreis vorschlagen. «Auch wenn er ein Linker ist», wie der Pfarrer mit leichtem Bedauern anmerkt. «Seine Arbeit ist nicht hoch genug einzuschätzen. Sie ist ein leuchtendes Beispiel der Solidarität und der Integration.»

Don Batista war acht Jahre lang Pfarrer in Riace und wechselte dann ins Nachbardorf Stignano, welches die Idee der freiwilligen Flüchtlingsaufnahme kürzlich übernommen hat. «In Riace sieht man, was man im Kleinen erreichen kann, wenn man denn will», so der Pfarrer weiter. «Noch besser wäre allerdings, die Misere in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu bekämpfen.» Als Kongolese weiss Don Batista, wovon er spricht. Er denkt bei seinem Land an die multinationalen Konzerne, die es heute noch plündern wie eine Kolonie.

17,5 Prozent Ausländeranteil

Riace liegt in Kalabrien im Süden Italiens – in der Fussspitze des Stiefels. Die gesamte Gemeinde hat etwa 1600 Einwohner. Davon lebt aber ein Grossteil in Riace Marina. Das alte Dorf liegt 7 km entfernt idyllisch in den Hügeln. Dort – im eigentlichen Riace – leben 400 Leute, 70 Flüchtlinge eingerechnet. Das ergibt einen Ausländeranteil von 17,5 Prozent.

70 Flüchtlinge also; junge Männer, Frauen und Kinder. Sie stammen zumeist aus Schwarzafrika, Afghanistan und Pakistan. Um ihnen ein Dach über dem Kopf zu ermöglichen, mussten erst einmal ein paar leerstehende Häuser renoviert werden. Damit begann die Zeit der Projekte in Riace. Wer in einem Projekt mitarbeitet, bekommt einen regulären Lohn bezahlt. Das Geld hierfür kommt aus Rom und Brüssel. Davon profitieren nicht zuletzt auch die Einheimischen, denn im strukturschwachen Süden sind Arbeitsplätze ein rares Gut. Flüchtlinge und Einheimische werden in verschiedenen kleinen Werkstätten beschäftigt, die zugleich als Verkaufsläden dienen. Es wird geknüpft und gehäkelt, gemalt und geschreinert. Unterhalb des Dorfes entstehen neue Gemüsegärten, sorgfältig terrassiert und mit steinernen Gartenhäuschen versehen. Der Bürgermeister, Domenico Lucano, hat schon ein neues Projekt im Kopf: Dereinst soll im Dorf ein Restaurant eröffnet werden.

Als Flüchtling auf sich allein gestellt

Die meisten Flüchtlinge, die sich in Riace niederlassen, zieht es nach wenigen Monaten fort. In den Norden. Ein paar wenige kehren bald desillusioniert zurück in das Dorf, das sie einst mit offenen Armen empfing. Aiva stammt aus Togo und strandete 2009 in Italien. Nachdem er neun Monate in einem Auffanglager zubringen musste, kam er schliesslich mit nichts als einer Aufenthaltsbewilligung in der Tasche frei. Er stand auf der Strasse wie unzählige Schicksalsgenossen in Italien. Aiva wollte so schnell wie möglich arbeiten. Dazu war er ja nach Europa gekommen. Zuhause warteten seine Frau und zwei Kinder auf seine Geldüberweisungen. So ging der junge Mann aus Togo in Kalabrien von Dorf zu Dorf, wo er von sich aus die Strassen und Plätze wischte, stets von der Hoffnung getrieben, die Einwohner würden ihm für seine Dienste etwas zustecken. Während er von einigen grossherzigen Leuten tatsächlich ein wenig Geld bekam, warfen die Kinder in den Dörfern manchmal mit Steinen nach ihm.

Als Aiva ein paar Euro gespart hatte, ging er in den nächst grösseren Ort, um das Geld nach Hause zu überweisen. Beim Verlassen des Western Union-Büros wurde aus einem Auto, das langsam an ihm vorbei fuhr, auf ihn geschossen. Die Kugel traf ihn im Oberschenkel. Die nächsten zwei Wochen verbrachte er im Spital. Dort hörte er von einem Dorf namens Riace, welches die Flüchtlinge willkommen hiesse. Einige Monate arbeitete er dort in einem Projekt, dann zog es ihn aber in den Norden, wo er viel mehr Geld zu verdienen hoffte.

In Deutschland wurde Aiva bald klar, dass er ohne gültige Papiere keinen Job finden konnte. In Dänemark putzte er einige Wochen lang in einer Bar, bis die Polizei kam und ihn in Handschellen abführte. Nach drei Wochen Haft wurde er nach Italien zurück geschafft. Heute lebt Aiva wieder in Riace und sagt, ihm hätte nichts Besseres passieren können als dieses Dorf mit seinem grossen Herzen.

So wie Aiva geht es vielen. Nach einer längeren Odyssee kehren sie zurück und werden in Riace sesshaft. Vereinzelt gibt es auch Heiraten zwischen Migranten und Einheimischen. Eine Afghanin beispielweise hat bereits Kinder mit einem Mann aus Riace. Die Flüchtlinge haben der kleinen Gemeinde in Kalabrien neues Leben eingehaucht.

Direkte Aufnahme nicht vorgesehen

Und in der Schweiz? Trotz der anhaltenden Zuwanderung haben verschiedene Gemeinden mit rückläufigen Einwohnerzahlen zu kämpfen. Auch im Aargau. Schlossrued beispielswiese gilt gemäss einer Erhebung der Aargauer Zeitung als das Schlusslicht in Sachen Bevölkerungswachstum, sprich: die Gemeinde kämpft mit Abwanderung.

Das Modell Riace lässt sich jedoch, wie Recherchen zeigen, nicht so einfach auf Gemeinden wie Schlossrued mit seien 830 Einwohnern übertragen. «Eine direkte Aufnahme von Flüchtlingen durch die Gemeinden ist in der Schweiz gar nicht vorgesehen», erklärt Balz Bruder, Mediensprecher des Aargauer Departements für Gesundheit und Soziales DGS. In der Tat: In der Schweiz werden die Asylsuchenden – soweit sie überhaupt Aussicht auf einen Aufenthaltsstatus haben – vom Bund auf die Kantone verteilt. Erst nach einem positiven Entscheid, auch wenn dieser nur die vorläufige Aufnahme bedeutet, tragen die Gemeinden die Verantwortung. In Italien hingegen sind Flüchtlinge, wie auch das Beispiel von Aiva zeigt, auf sich selbst gestellt, nachdem sie eines der grossen nationalen Auffangzentren verlassen haben.

Kanton zahlt Sozialhilfe

Gleichwohl gäbe es für Schweizer Gemeinden einen Anreiz, freiwillig Flüchtlinge aufzunehmen. Der Kanton bezahlt nämlich für alle vorläufig Aufgenommenen während fünf Jahren die Sozialhilfe, bei anerkannten Flüchtlingen sogar mindestens siebe Jahre. Diese Tatsache könnte ein Anreiz sein, dem Beispiel von Riace zu folgen, um auch im Ruedertal eine Asylerfolgsgeschichte zu schreiben. Warum also nicht zusätzliche Flüchtlinge aufnehmen – vielleicht 20, 30 oder mehr – und mit ihnen und Einheimischen gemeinsam Unterkünfte bauen, den leerstehenden Laden wieder in Betrieb, Werkstätten aufbauen oder Landwirtschaft betreiben?

Der Gemeindeammann von Schlossrued, Martin Goldenberger, winkt allerdings ab. Aus verschiedenen Gründen. Zum einen befänden sich die leer stehenden Häuser ausserhalb des Dorfes und gehörten Privatpersonen. Weiter wäre die Schule überfordert, wenn mehrere Familien mit Kindern kämen, die kein Deutsch verstehen. Und dann ist da noch die Bevölkerung: Am letzten Abstimmungswochenende habe man ja wieder gesehen, dass Schlossrued rechts wähle, die Leute also auch Flüchtlingen gegenüber eher reserviert gegenüber stünden. Gleichwohl, das betont Martin Goldenberger, «haben wir hier bei uns mehr Asylbewerber als wir müssten: Neun statt sechs.»

Schule sorgt für Integration

Nach dem Telefonat mit dem Gemeindeammann fahren wir hin, um uns selbst ein Bild zu machen. Dichte Regenwolken hängen an jenem Dienstagmittag über dem Tal, in welchem sich einst die Wiedertäufer verstecken mussten. Das Dorf wirkt wie ausgestorben. Da: Wir treffen einen Eritreer mit seiner Tochter, die in Schlossrued die fünfte Klasse besucht. Das Mädchen spricht gut Deutsch, beim Vater müssen wir uns mit Italienisch behelfen. Ob er sich gut integriert fühle? Die Antwort: In Schlosssrued habe er eigentlich nur mit den Leuten auf der Gemeinde Kontakt, alles andere laufe in Aarau.

Auf der Suche nach Einheimischen landen wir im Storchen – eine von zwei geöffneten Beizen im gesamten Ruedertal. Die aber ist gut besetzt. An einem Tisch treffen wir Viktor Würgler, den ehemaligen Gemeindeschreiber von Schlossrued, und die für das «Wyentaler Blatt» tätige Journalistin Frieda Steffen.

Auf Stadtflucht folgte Landflucht

Dass Schlossrued in den letzten Jahren die Einwohner abhanden gekommen sind, halten die meisten in der Beiz für «Dummes Geschwätz». Gemeindeschreiber Viktor Würgler räumt allerdings ein, dass eine Gegenbewegung zur Stadtflucht eingesetzt habe. «Früher, da kamen die Leute von der Stadt aufs Land, wollten hier ein Einfamilienhaus.» Heute sei das anders. Die nicht optimale ÖV-Anbindung ins Ruedertal sowie der Rückgang bei den Bauernbetrieben habe ein Übriges dazu beigetragen, die Abwanderung der letzten Jahre zu begünstigen. «Früher gab es hier 60 Bauernbetriebe von Grossfamilien», erinnert sich der von 1966 bis 2010 amtierende Gemeindeschreiber.

Nach italienischem Vorbild die Zuwanderung zu fördern, um die Einwohnerzahl zu erhalten, erachtet der ehemalige Gemeindeschreiber als wenig sinnvoll. Schlossrued habe seine Aufnahmeplicht immer erfüllt – ja, sogar darüber hinaus Flüchtlinge aufgenommen: «Vor 30 Jahren schon zwei Familien. Die konnten wir gut integrieren.» Würde man jetzt mehr aufnehmen, fehlten die Ressourcen für die Integration, ist Viktor Würgler überzeugt.

Arbeitsmarkt würde konkurrenziert

Überdies wäre so ein Vorgehen wie in Riace problematisch für den Arbeitsmarkt, ergänzt Frieda Steffen. Die Flüchtlinge würden dann quasi staatlich subventioniert Arbeiten zu viel günstigeren Preisen verrichten. «Ähnlich wie man das aktuell mit einer Sozialunternehmung kennt. Die offerieren zu Preisen, mit denen gewöhnliche Betriebe nicht konkurrieren können.»

Schlossrued als schweizerisches Riace? Wohl kaum. Die Leute glauben vielmehr, dass die kleine Gemeinde im Ruedertal auch ohne grössere Anstrengungen bald wieder wachsen wird. «Die Zuwanderung hat Bestand. Wenn in Schöftland das Bauland ausgeht, dann gdürfte das bei uns Auswirkungen haben», meint Viktor Würgler. Erste Anzeichen sehe man bereits. Es würden in der Gemeinde bereits die ersten Mehrfamilienhäuser gebaut.

 

 

 

 

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