18.11.2015

Konfrontation mit geplatzten Träumen

Von Andreas C. Müller

Die aktuelle Flüchtlingssituation ist auch an den Aargauer Kantonsschulen ein Thema. An der Kanti Baden organisierte Benjamin Ruch, der kantonale Beauftragte der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau, zusammen mit der Deutschlehrerin Nicole Peter Begegnungen mit Flüchtlingen.

«Auf der Flucht sterben alle deine Pläne und Träume», antwortet Omer Zeinu auf die Frage, was ihn denn auf der Flucht motiviert habe. Der 29-jährige Eritreer berichtet in fliessendem Englisch über seine Flucht und seine Situation in der Schweiz. Dies im Rahmen einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Flucht und Migration». Die gut sechzig Schülerinnen und Schüler, die sich in der Mediothek versammelt haben, können sich entscheiden, mehr über das Schicksal von einer von drei Personen zu erfahren. Neben Omer Zeinu haben sich Jathursan Premachandran aus Sri Lanka
 und Avin Mahmoud aus Syrien für ein Gespräch zur Verfügung gestellt.

Auf sich selbst zurückgeworfen
Avin Mahmoud wirkt etwas scheu. Ihre Schwierigkeit, sich auf Deutsch verständlich zu machen, verstärkt ihre Unsicherheit. Immer wieder muss die 35-jährige Kurdin, die seit etwas mehr als anderthalb Jahren in der Schweiz lebt, auf ihren Übersetzer zurückgreifen. Avin Mahmoud ist als Flüchtling in der Schweiz anerkannt. Ihr droht in Syrien Haft, weil sie sich dort als Anwältin für die Menschenrechte der Kurden engagierte. Was sie denn nun hier tue, wollen die Schülerinnen und Schüler wissen. Ob sie von der Schweiz aus ihren Kampf für die Kurden im Norden Syriens fortsetze? Wie sie hier unterstützt werde? Was sie als grösste Unterschiede im Vergleich zu ihrem Heimatland erlebe? Sie sei auf sich selbst zurückgeworfen, müsse sich zuerst um ihre Integration bemühen und könne aktuell nichts für ihre Landsleute in Syrien tun, erklärt Avin Mahmoud via ihren Übersetzer. Sich integrieren heisst: Die Sprache lernen, Arbeit suchen. Aktuell lebt die studierte Juristin von Sozialhilfe in einer kleinen Mietswohnung in Bern. Als grössten Unterschied gegenüber Syrien erlebt sie die Freiheit, hier sagen zu dürfen, was sie wolle. Das politische System der Schweiz, das verschiedene Kulturen umfasse, dient ihr als Vorbild. Sobald sie könne, wolle sie aktiv ihren Beitrag leisten, dass Syrien einen demokratischen Rechtsstaat bekomme.»

Lieber tot in der Wüste als in der Schweiz
Im Nebenraum konfrontiert derweilen Omer Zeinu «seine» Schülergruppe mit provozierenden Ansichten. Nein, er sei nicht glücklich hier, meint Omer Zeinu. Rückblickend hätte er sich in der Wüste lieber beide Beine gebrochen, als hier in der Schweiz zu landen. Auf Nachfragen der Schülerinnen und Schüler, wie er dann zu dieser Überzeugung gelangt sei, bleibt der Eritreer die Antwort nicht schuldig. Er habe hier ja keine Perspektive. «Mich erwartet im besten Fall ein Putzjob oder eine Anstellung als Hilfspfleger in einem Altersheim.» Und selbst das dürfte schwierig werden, denn «in diesem Land brauchst du ja für alles ein spezielles Diplom. Sogar fürs Mülleinsammeln.» Er würde noch so gern zurück ein seine Heimat, meint Omar Zeinu. Doch er könne nicht, weil er sonst wegen Wehrdienstverweigerung ins Gefängnis müsse.

Kontroverse Reaktionen unter den Schülern
Der Auftritt von Omar Zeinu polarisiert. Während die 16-jährige Nastasia diplomatisch bleibt und meint: «Ich kann mich zu wenig in seine Situation versetzen, als dass ich das angemessen beurteilen könnte», wird ihr Kollege Tim konkreter: «Der Mann gewichtet den Schutz, der ihm hier gewährt wird, weniger stark als seine wirtschaftliche Möglichkeiten. Das enttäuscht mich. Als Flüchtling müsste man schon ein gewisses Verständnis dafür aufbringen, dass wir nicht alle Leute so integrieren können, wie sich die Betroffenen das wünschen.»

Erhitzte Gemüter fernab von Ertrinkenden
Eine Diskussion in Gang bringen, das Leben der Flüchtlinge verstehen, vielleicht sogar dazu motivieren, selbst zu helfen, das erhoffen sich der Vermittler der Flüchtlingsgespräche an der Kantonsschule Baden. Vorangegangen ist dem Begegnungsnachmittag eine Woche zuvor ein Impulsreferat von Kaspar Surber. Der Historiker und Redaktor bei
der Wochenzeitung WOZ hat vor versammelter Schülerschaft die Fakten ausgebreitet und versucht, die grösste Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg für die anwesenden Jugendlichen verständlich zu machen. Gegen sechzig Millionen Millionen Menschen sind aktuell auf der Flucht. Für etwa 20 Prozent führt diese nach Europa. Übers Mittelmeer, wo in den letzten Jahren mehr als 25 000 Menschen ihr Leben verloren. In der Schweiz, fernab des Massensterbens, erhitzt das Thema die Gemüter: Einerseits wird gegen Asylunterkünfte protestiert, andererseits organisieren Freiwillige Mittagstische und Deutschkurse.

Menschen kommen auch ohne Willkommenskultur
Eine Veranstaltungsreihe zum Thema Migration habe sich in Anbetracht der Aktualität geradezu aufgedrängt, erklärt Deutschlehrerin Nicole Peter, die zusammen mit dem an der Kantonsschule Baden im Auftrag der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau tätigen Theologen Benjamin Ruch die Initiative ergriff. Letzterer stellte die Kontakte zu Flüchtlingen her, lud sie ein, an der Schule von ihren Erfahrungen zu berichten. Für Nicole Peter ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler verstehen lernen, weshalb Menschen ihre Heimat verlassen, wie es um deren Situation in Europa bestellt ist und wie ein gemeinsamer Weg aussehen könnte. «Nicht das Unterbringen von Flüchtlingen, sondern deren Integration sei die grosse Herausforderung», hatte die für das Flüchtlingsdossier im Aargau zuständige Regierungsrätin Susanne Hochuli am 11. November 2015 vor der Synode der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau betont. Es brauche keine künstlich aufgebauschte Willkommenskultur, die Menschen kämen auch so.» Gefragt sei vielmehr freiwilliges Engagement, wie es beispielsweise von Kirchenmitgliedern bereits vorgelebt werde.

Flüchtlinge sollen in WGs
Dass auch Jugendliche und junge Erwachsene durchaus etwas bewirken können, thematisiert der dritte Teil der Veranstaltungsreihe «Flucht und Migration» an der Kanti Baden morgen Donnerstagnachmittag, 19. November 2015. Zu Gast sind junge Menschen, die über ihr Engagement zugunsten von Flüchtlingen berichten. Nebst dem Aargauer Jugendrotkreuz, das für jugendliche Flüchtlinge Sportveranstaltungen und Deutschnachhilfe organisiert, werden auch Sarah Benninger und Rahel Rietmann von Wegeleben Aargau ihre Initiative vorstellen. Konkret geht es darum, Flüchtlinge als Mitbewohner für Wohngemeinschaften zu vermitteln. Auf Anfrage von Horizonte bestätigen Sarah Benninger und Rahel Rietman, dass es vor zwei Wochen gelungen sei, den ersten Flüchtling unterzubringen. «Wenn alles klappt, kann der junge Tibeter im Dezember in die WG einziehen. Ein weiteres Treffen zwischen einer WG und einem anderen geflüchteten Menschen steht zudem bald an.» Mit ihrem Projekt wollen Die Organisatoren von Wegeleben zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: «Einerseits bekommen die geflüchteten Menschen Wohnraum, andererseits haben sie Kontakt zu Menschen, die Deutsch sprechen und die gewillt sind, sich auf die Bedürfnisse eines geflüchteten Menschen einzulassen. Es wird zusammen gekocht und gegessen, vielleicht bei einem Bewerbungsschreiben geholfen, oder der neue Gast wird in den Volleyballverein mitgenommen.»

Von der Maturarbeit zur Aktivistin
Katherine Füglister wurde durch ihre Maturarbeit mobilisiert und wird ebenfalls ihr Engagement vorstellen. «Ich unterstütze 12 jugendliche eritreische Asylsuchende im Asylheim Wettingen», erklärt die junge Frau gegenüber Horizonte. Drei dieser Jugendlichen hatten sich bereit erklärt, Katherine Füglister für ihre Maturarbeit ihre Geschichte zu erzählen. Noch immer ist die Kanti-Schülerin für diese und andere Jugendliche im Aslyheim Ansprechperson. «Ich helfe den Jungs bei der Wohnungssuche, unterrichte ihnen Deutsch und bringe regelmässig Kleider vorbei.» Katherine Füglister bedauert, dass diese Menschen – auch aufgrund der Medienberichterstattung – auf ihre Flüchtlingseigenschaft reduziert werden. «Was diese Menschen wollen, ist, dass wir ihnen eine Chance geben.» Das bestätigen auch Omer Zeinu
und Avin Mahmoud, die sich mit den Schülerinnen und Schülern an der Kanti Baden ausgetauscht haben. Auf die Frage einer Schülerin, was man denn tun könne, damit es Flüchtlinge bei uns besser haben, antwortet Omer Zeinu ohne Umschweife: «Ganz klar, es braucht eine gute Ausbildung. So lange du unter 20 Jahre bist, kriegst du eine gute Ausbildung hier. Bist du älter, gibt’s nichts Gescheites mehr. Das ist fatal. So könnt ihr uns auch gerade so gut nach Hause zurückschicken.»

 

Junge Menschen sprechen über ihr Engagement für Flüchtlinge
Donnerstag, 19. November, 12.15 bis 13.30 Uhr, Aula der Kantonsschule Baden
Letzter Teil der öffentlichen Veranstaltungsreihe «Flucht und Migration»
Kontakt: benjamin.ruch@kanti-baden.ch

 

Was tut die Römisch-Katholische Landeskirche im Aargau?
Mitte September 2015 verschickte die Römisch-Katholische Landeskirche Aargau an die Kirchenpflegen im Kanton einen Aufruf, Unterkunftsmöglichkeiten für Asylsuchende zu evaluieren. «Ich habe viele und gute Rückmeldungen erhalten, teilweise mit konkreten Angeboten oder zumindest mit Ideen für Unterbringungsmöglichkeiten, die nun vom Kantonalen Sozialdienst näher geprüft werden», erklärte Kirchenratspräsident Luc Humbel vor der Synode am 11. November 2015. Konkret stehen sechs Angebote zur Disposition. Auch die Landeskirche habe einen Beitrag leisten können. Zusätzlich zu den Flüchtlingsfamilien in der Liegenschaft an der Laurenzenvorstadt wird auf Anfang Dezember 2015 eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Kleinkind in einer Wohnung an der Feerstrasse 8 in Aarau einziehen. Weitere Ideen werden geprüft und 2016 vorgestellt.

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