15.12.2016

Lichtträger sein in unserer Zeit

Von Carmen Frei

Donnerstag, 8. Dezember 2016. Maria Empfängnis. In Luzern ein offizieller Feiertag. Der Pilatusmarkt in Kriens hingegen hat geöffnet. Seit zehn Jahren gibt es dieses Shoppingcenter. Seit zehn Jahren tritt dort im Advent der Zirkus Stey auf. Einmal während dieser Zeit wird in der Mini-Manege ein vorweihnächtlicher Gottesdienst gefeiert. Geleitet von Zirkuspfarrer Adrian Bolzern.

9.30 Uhr. Das Parkhaus des Pilatusmarkts füllt sich zügig. Die Rolltreppe, die zu den verschiedenen Verkaufsebenen führt, bevölkert sich zusehends. Mitten in der festlich geschmückten Mall ist eine kleine, feine Zirkusarena aufgebaut. Bunt kariert gekleidet und das Gesicht bereits geschminkt, lümmeln Clown Pipoli und Clown Polo auf der dreireihigen Tribüne herum. Von Zirkuspfarrer Adrian Bolzern keine Spur, obwohl sein mit «Pfarrer Bolzern» bunt beschriftetes Auto unübersehbar im Parkhaus steht. «Er ist einkaufen gegangen», weiss Clown Pipoli. Das Gesicht der Werbeflyer- und -plakate für den Weihnachtszirkus Stey gehört zum dritten Mal dem Ensemble an, das im Pilatusmarkt auftritt. Seit eh und je dabei ist Clown Polo. Kein Wunder. Steckt doch hinter der Maskerade Rolf Stey, der Seniorchef des gleichnamigen Traditionszirkus. «Wir sind die älteste Gaukler- und Artistendynastie der Schweiz, wenn nicht die Älteste Europas», beginnt der gesprächige 72-Jährige. «Unser Stammbaum lässt sich bis ins Jahr 1437 zurück verfolgen.»

Messerscharf

Vor vier Jahren hat Rolf Stey die Direktion des Familienbetriebs seinem Sohn Martin übertragen. Der Weihnachtszirkus im Pilatusmarkt hingegen ist noch immer sein Ding. Vor dem Haupteingang ins Shoppingparadies stehen die Stey-Wohnwagen gemütlich gruppiert zusammen. Ein im alten Stil gebauter, aber offensichtlich neuer Wohnwagen sticht besonders ins Auge. Darauf angesprochen, strahlt der Seniorchef. «Den habe ich eigenhändig gebaut. Mit allem. Modernste Küche. Luxusbadezimmer samt Closomat. Meine Frau möchte am liebsten nur noch in diesem Wohnwagen und gar nicht mehr in unserem Haus wohnen.» Im Frühling hat der handwerklich Begabte mit dem Bau seines Schmuckstücks begonnen. Seit Herbst ist das fahrende Zuhause in Betrieb. Rolf Stey ist ein Tausendsassa. «Wissen Sie, in unserem Zirkus müssen sie ein Allrounder sein. Wir reparieren ausser den Lastwagen alles selber», so der ehemalige Artist, der als Einziger weltweit seinen Hochseilakt mit einer Messerwerfernummer vereinen konnte.

Brotkörbchen

Leicht ausser Atem trifft nun Adrian Bolzern ein. Unterm Arm zwei Brotkörbchen. Die Preisschilder noch dran. «Ich habe die Opferkörbchen vergessen», lacht der in Aarau tätige Priester und entfernt die Etiketten. Derweil platzieren sich bereits vereinzelte Gottesdienstgäste auf den Bänken und in den Logen. Unter ihnen Familie Ercolani. Sie besucht schon seit Jahren diese Feier, weil sie die Kombination von Wortgottesdienst und artistischen Einlagen schön findet. Sohn Yamiro freut sich auf die Hundenummer: «Ich habe sie bei der Probe gesehen.» Auch Schwester Leandra findet die Hündli lustig und weiss zusätzlich etwas von einer Nummer mit Kerzen. Alessia meint: «Mir gefällt der Weihnachtszirkus im Shoppingcenter, weil er jedes Jahr anders ist.» Auch Rolf Stey rühmt seine Artisten, die heuer aus Deutschland, Kuba, Rumänien, der Schweiz und China oder wie das Live-Orchester aus Polen kommen. «Es ist nicht selbstverständlich, dass sie in einer so kleinen Manage auftreten. Und gell Adi, du hattest in dieser Mayonnaise deinen allerersten Auftritt.»

Dort, wo die Leute sind

In der Tat gab Adrian Bolzern vor drei Jahren hier seinen Einstand als Nachfolger von Ernst Heller in der Seelsorge der Zirkusleute, Schausteller und Markthändler. Mittlerweile ist er insbesondere mit der Familie Stey eng verbunden. Taufte vor wenigen Wochen Rolf Steys gleichnamigen Enkel und plant mit den Steys eine Aktion zum Zirkustag 2017 des Pastoralraums Aarau. War Adrian Bolzern bisher 70 Prozent als Priester in Aarau tätig und 30 Prozent als Zirkuspfarrer, verschieben sich die Pensen auf Anfang 2017 zu je 50 Prozent. «Wenn ich die Aufgabe als Seelsorger der Zirkusleute, Schausteller und Markthändler ernst nehmen will, braucht es diesen Einsatz», der dem 37-Jährigen auf den Leib geschneidert scheint. Seine Begeisterung für diese Aufgabe gründet vor allem in seinem Verständnis von Seelsorge, «die dorthin gehen soll, wo die Leute sind».

Fanfare

Unter der wachsenden Zahl von Zirkusgottesdienst-Besucherinnen und –Besuchern sitzt Eduard Lötscher. Seit 30 Jahren ist er Mitglied im «Club der Circus-, Variété- und Artistenfreunde der Schweiz» und nicht nur mit den anwesenden Grössen, sondern schlicht der ganzen Szene per Du. «In meiner Jugend gab es in der Freizeit noch wenig Abwechslung. Darum habe ich die Zirkuswelt schätzen gelernt», so der Hergiswiler und bevor er weiter berichten kann, setzt die Zirkusband zur Fanfare an, Clown Pipoli und Clown Polo heben den Samtvorhang und in die Manege tritt Pfarrer Bolzern im Messgewand mit farbenfroher Stola, bestickt mit Zirkus- und Schaustellermotiven.

Symbol Weihnachtspyramide

Der Gottesdienst beginnt in Erinnerung an den eben erst verstorbenen, 49-jährigen Leiter des Pilatusmarkts. Das Licht der Osterkerze soll ihn begleiten. Noch liegt etwas Nervosität in der Stimme von Adrian Bolzern. Er erwähnt den Feiertag Maria Himmelfahrt statt Maria Empfängnis. Findet jedoch rasch zur gewohnt gelassenen Form, als die Weihnachtspyramide mit Hilfe der Clowns entzündet ist, sich flott dreht und er die dazu passende Geschichte erzählen kann. «Jesus war einer, der das Leben feierte», schliesst der Pfarrer seine frohe Botschaft. «Um eine solche Mitte drehe ich mich gerne», sagt er in Anlehnung an die Pyramide, bei der auf verschiedenen Etagen Hirten, Könige sowie Tiere um die heilige Familie rotieren. Ebenfalls auf den Symbolgegenstand bezogen, lädt er alle Anwesenden ein, «Lichtträger in unserer Zeit zu sein».

Witzige Pointe

Zwischen Worten, Gebeten und Fürbitten treten die Artistinnen und Artisten in Aktion: Während die «Crazy Dogs» mit ihren flinken Pfoten die Lachmuskeln stimulieren, strapaziert der smarte Antonio mit seiner waghalsigen Akrobatik an der Polestange durchaus das Gottvertrauen. Irgendwann taucht Martin Stey mit Familie auf. Die kleine Tochter gesellt sich schnurstracks zu ihrer Nani, Irene Stey, welche das Programm moderiert. Klein Rolf wird von Clown Polo herumgetragen und versucht krampfhaft herauszufinden, wer denn dieser Mann unter der Schminke sein könnte, derweil die chinesische Schlangenfrau auf Kopf, Händen und Füssen Ständer balanciert, die mit brennenden Kerzen bestückt sind. Zum «Vater unser» beruhigt sich das Geschehen etwas, alle Kinder sind eingeladen, in die Manege zu kommen, gemeinsam zu beten und hernach den Frieden in die Ränge hinauszutragen. Dank, Segen – und Pfarrer Bolzern typisch – ein Witz beschliessen die lebensfrohe und lichtvolle Feier.

Kirche im Einkaufswagen

Nach dem Gottesdienst versammelt sich die ad hoc-Gemeinde vor dem Brillengeschäft zum gesponserten Apéro. Die Artisten schenken Jus und Schampus aus. Adrian Bolzern rollt einen Einkaufswagen in die Manege und füllt ihn mit den Utensilien, die er für die kirchliche Feier genötigte. Inklusive Brotchörbli, die ihre Feuertaufe als Opferstöckli bestanden haben.

Bescheidene Besinnung

Auf Luzern folgt Solothurn: Am 11. Dezember feiert Adrian Bolzern mit dem Zirkus Gasser Weihnachtsgottesdienst. Und am 24. Dezember folgt der Weihnachtsgottesdienst im Salto Natale. «Ich kann dort natürlich nie lange bleiben, weil ich an Heiligabend auch bei uns im Pastoralraum im Einsatz bin. Dieses Jahr in Entfelden», meint der Vielbeschäftigte. Bleibt da überhaupt noch Zeit, weihnächtliche Einkehr zu halten? «Nein, seit ich in der Kirche arbeite, ist diese Zeit einfach zu streng», gibt er unumwunden zu.

Frohe Festtage

11.30 Uhr. Adrian Bolzern schiebt sein liturgisch bestücktes Postiwägeli hinter den Samtvorhang und mischt sich unter die Apérogäste. Lernt den neuen Leiter des Pilatusmarkts kennen. Stösst mit den Steys an. Lässt sich von der Leutseligkeit der Zirkusfamilie anstecken und lebt insofern das, was er eben grad gepredigt hat: «Jesus war einer, der das Leben feierte. Um eine solche Mitte drehe ich mich gerne.» Ganz nach dem Motto: Frohe Festtage.

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