12.01.2017

Obdachlos im Aargau

Von Andreas C. Müller

Christliche Institutionen wie das «Hope» und die Heilsarmee stellen im Aargau für Obdachlose Unterkünfte zur Verfügung. Der Ansturm ist gross, denn diese Unterkünfte sind billig und entsprechend attraktiv, wenn Gemeinden dem Gesetz folgend Obdachlose unterbringen müssen. Es fehlen aber nicht nur Sozialstudios, sondern auch Unterkünfte für Obdachlose mit gesundheitlichen Problemen und Suchterkrankungen. Aus Sicherheitsgründen erhalten diese Menschen kein Obdach – mit fatalen Folgen, wie die Recherche von Horizonte zeigt.

Seit gut 30 Jahren schlägt sich Röbi von Allmen (Name von der Redaktion geändert) der ohne eigene Wohnung durch. Zu seinen strübsten Zeiten war Röbi auf der Gasse, schlief draussen. Zeitweise lebte der mittlerweile 45-jährige Alkoholiker und immer wieder rückfällige Drogensüchtige bei Freunden oder in Pensionen, die ihm die Sozialämter finanzierten. Zu Letzterem sind die Gemeinden nämlich laut Sozialhilfe- und Präventionsgesetz verpflichtet.

Allein 184 Anfragen im vergangenen Jahr

Seit bald einem halben Jahr wohnt Röbi im «Hope», einer christlichen Sozialinstitution in Baden. Das «Hope« bietet Menschen ohne eigene Wohnung für die Dauer von maximal sechs Monaten ein Obdach. Das kostet die öffentliche Hand 70 Franken am Tag – inklusive Vollpension. Deutlich weniger als in einem Hotel.

«Wir hatten schon völlig entkräftete Leute vor der Türe, erklärt Daniela Fleischmann, Geschäftsleiterin beim «Hope». Insgesamt 17 Personen wohnen jeweils vorübergehend an der Stadtturmstrasse, weitere 11 Personen hat das «Hope» in externen Wohnungen in Baden untergebracht. Allein 184 Anfragen habe man im vergangenen Jahr erhalten, so Daniela Fleischmann. Von Beiständen, Sozialdiensten und Obdachlosen aus dem ganzen Kanton und darüber hinaus. 62 Personen habe man aufnehmen können.

Als Wohnbegleiter kümmert sich Roger Hagenbuch im «Hope» um die Gäste auf Zeit: «Wir schauen, dass diese Menschen wieder eine Struktur in ihren Tag bekommen und zurück in den Alltag finden», erklärt er. «Mahlzeiten und verschiedene Ämtli helfen, dieses Ziel zu erreichen, obgleich die meisten nicht mehr als sechs bis acht Stunden pro Woche arbeiten können.» So gut es geht, werden die Gäste im «Hope« auf eine Anschlusslösung vorbereitet. Denn nach spätestens sechs Monaten müssen sie gehen. Und nicht alle haben eine Anschlusslösung.

Gemeinden befeuern Sozialstudio-Nachfrage

Auch die Heilsarmee stellt Sozialstudios zur Verfügung. Für die drei Sozialstudios an der Baslerstrasse in Brugg-Umiken erhält Korpsoffizier Markus Kunz täglich Anfragen. «Es ist hart, dass wir auch mit unseren drei Studios, die wir anbieten, oft absagen müssen. Denn unsere Studios haben teilweise eine lange Warteliste.» Es brauche klar mehr Sozialstudios, weiss Markus Kunz. Die Sozialdienste der Region würden «ihre Leute« natürlich am liebsten in solchen Studios unterbringen. Diese kosteten 900 Franken im Monat. Die Ausgaben für ein Pensionszimmer übersteigen diese Ausgaben um ein Vielfaches.

Maximal drei Monate dürfen Menschen ohne eigene Wohnung in einem der Sozialstudios bei der Heilsarmee bleiben. «So haben sie wieder eine Adresse, mit deren Hilfe plus Referenz von uns sie eine Wohnung finden können. Ohne diese wären sie auf dem Wohnungsmarkt chancenlos», erklärt Markus Kunz. Die Studios sind schlicht gehalten: Ein bis zwei Zimmer mit Schlaf- und Wohngelegenheit, dazu Kochnische und Nasszelle.

In einem der Studios treffen wir eine junge Frau mit zwei Kindern. Sie ist froh, hier sein zu können. Wegen häuslicher Gewalt sei sie vor zwei Monate hier gelandet. Damit sie nicht gefunden werde, könne sie nicht bei Familienangehörigen wohnen. «Frauen mit Kindern dürften sechs Monate bleiben», erklärt Markus Kunz. Voraussetzung sei, dass sie sich – genau wie die anderen Studio-Bewohner – selbstständig versorgten und eine Kostengutsprache vorliege.

Viel Widersprüchliches zu den Zahlen

Auf Nachfrage bei offiziellen Stellen entsteht der Eindruck, dass es im Grunde kein Obdachlosenproblem im Aargau gibt. So erklärt beispielsweise Bernhard Graser, Mediensprecher der Kantonspolizei Aargau auf Anfrage: «Obdachlosigkeit ist ein Phänomen, das wir so in einem vergleichbaren Masse wie in Zürich oder anderen Grossstädten nicht kennen.» Klar gebe es Randständige wie beispielsweise in Aarau am Bahnhof, aber diese seien in soziale Netze eingebunden und müssten nicht auf der Strasse schlafen.»

Das bestätigt auch Jeannine Meier, Vorsteherin der Sozialen Dienste der Stadt Aarau. «Der Bahnhof ist ein Sammelpunkt. Nur weil sich dort Randständige aufhalten, heisst das noch lange nicht, dass diese obdachlos sind.» Jedenfalls habe man noch nie von der Polizei Personen zugewiesen bekommen, von denen es hiess, sie seien obdachlos. «Wirklich Obdachlose sind uns nicht bekannt.»

Weder das kantonale Amt für Statistik noch der Bund liefert Zahlen zum Thema Obdachlosigkeit. Solche finden sich erst in der Sozialhilfestatistik. Diese erfasst, inwieweit Personen mit «besonderen Wohnformen« von den Gemeinden unterstützt werden: «Ohne feste Unterkunft« oder in «Pensionen», bzw. «Hotels». Waren dies im Aargau 2012 noch 177 Personen, so weisen die Statistiken für die Jahre 2014 und 2015 jeweils 228 Personen aus.

Diesen Zahlen gegenüber stehen die Angaben von Seiten der Betreiber von Notunterkünften und Sozialstudios. Und Aussagen von Seiten Sozialer Dienste, beispielsweise aus Aarau. Jeannine Meier, Vorsteherin der Sozialen Dienste der Stadt Aarau, erklärt auf Anfrage: «Die Sozialen Dienste sind immer wieder in der Situation, kurzfristig Personen in provisorischen Unterkünften unterkommen zu lassen. Eine eigentliche Statistik darüber führen wir jedoch nicht.»

Pfuusbus im Aargau gescheitert

Von «Einzelfällen» spricht zunächst Hildegard Hochstrasser. Auf kritisches Nachfragen hin räumt die Leiterin der Sozialen Dienste Baden dann aber doch ein, dass es Notschlafstellen und Notwohnungen bräuchte. Leider habe unlängst ein dem Zürcher Pfuusbus nachempfundenes Projekt nicht realisiert werden können, so Hildegard Hochstrasser. Man habe viele Anläufe genommen, doch die Gemeinden hätten das Projekt nicht mittragen wollen.

Auch die Landeskirchen waren als Partner für den Pfuusbus vorgesehen. Auf ein weiterführendes Engagement zugunsten von Obdachlosen angesprochen, erklärt Kirchenratspräsident Luc Humbel: «Im Wissen um die weiterhin bestehende Mankosituation ist das Thema weiterhin präsent und pendent.» Luc Humbel kann sich vorstellen, dass man mit der neu geschaffenen Fachstelle Diakonie die Fragestellung thematisieren und wohl auch evaluieren werden.

HEKS vermietet an jene, die niemand will

Seitens der Reformierten Landeskirche Aargau hält Christian Härtli fest: «Im Auftrag der reformierten Kirche ist das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz HEKS in diesem Bereich aktiv.» Die Regionalstelle Aargau/Solothurn bewahre mit dem Projekt «HEKS-Wohnen» viele Menschen, die keine Wohnung finden, vor Obdachlosigkeit. Unterstützt werde das Projekt seit Anfang mit namhaften Beiträgen von Seiten der Reformierten Landeskirche.

Die sieben Notwohnungen in Aarau seien etwa zu 90 Prozent ausgelastet, erklärt René Lindenmaier von der Regionalstelle Aargau/Solothurn des HEKS. Er wisse von vielen Leuten, die über Monate hinweg keine eigene Wohnung hatten – Zunehmend Menschen mit Schulden und Betreibungen. «Diese können keine Wohnung anmieten», hält René Lindenmaier fest.

In den Notwohnungen des HEKS können Obdachlose zwischen drei bis sechs Monaten bleiben. Bedingung sei die Akzeptanz von regelmässigen Besuchen, René Lindenmaier nennt das Wohnbegleitung. In der Begleitung würden lebenspraktische und psychosoziale Themen bearbeitet, erklärt der Sozialpädagoge. Auch für Familien hält das HEKS eine solche Notunterkunft bereit. Letztere kostet die öffentliche Hand 140 Franken pro Tag, für eine Einzelperson werden den Sozialdiensten 85 Franken verrechnet – ohne Verpflegung. Die Leute hätten so ein günstiges Zimmer mit eigenem Bad und einer Küche – ein Vorteil gegenüber der Unterkunft in einem Hotel oder einer Pension.

Für Menschen mit hohen Schulden und Betreibungen, die auf dem Wohnungsmarkt chancenlos bleiben, vermietet das HEKS zudem 49 eigene Wohnungen. Auch diese würden nur mit Wohnbegleitung vermietet, erklärt René Lindenmaier und fügt an: Zur Zeit seien alle diese Wohnungen belegt.

Kein Obdach für Suchtkranke

Dass immer mehr Menschen mit finanziellen Problemen keine Wohnung mehr finden, weiss auch Daniela Fleischmann vom «Hope». Ihr Sorge gilt indessen einem anderen Problem: «Die Sozialämter erfassen die Personen, die bei Ihnen gemeldet sind und sich an die Ämter wenden. Was aber ist mit Menschen, die nirgends gemeldet sind – spanischen Gastarbeitern zum Beispiel? Was ist mit Suchtkranken, die aus der Therapie fliegen oder Menschen, die sich nicht auf die Ämter trauen?» Auch Menschen mit einer psychischen Erkrankung, die mit ihrem Alltag überfordert, zugleich aber den Anforderungen an einen Aufenthalt in einer Institution für Menschen mit einer psychischen Erkrankung nicht entsprächen, würden sich selbst überlassen.

Menschen mit Suchterkrankungen oder psychischen Problemen hätten generell ein hohes Risiko für Obdachlosigkeit, so Daniela Fleischmann. Kommt hinzu, dass sie aus Sicherheitsgründen weder von der Heilsarmee, noch vom «Hope» beherbergt werden. «Das ist zu gefährlich. Unsere Strukturen reichen dazu nicht, wie uns die Erfahrung gezeigt hat», erklärt Daniela Fleischmann. Mit teils traurigen Konsequenzen: Zwei Schwerstsüchtige, die um Hilfe ersucht hätten und abgewiesen werden mussten, starben kurze Zeit später.

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