08.08.2016

Rivella, Chips und Cervelat

Von Carmen Frei

Adriana ist das Sommerkind von Helen, Beat und Linda Müller aus Lengnau. Zusammen mit 17 anderen Kindern aus Leipzig und Umgebung verbringt sie auf Initiative des «Vereins Schweizer Gasteltern» Ferien in der Schweiz. Eine besondere Beziehung auf Zeit.

Adriana sitzt am Stubentisch. Mit einem verheissungsvollen Grinsen auf den Stockzähnen greift sie abwechslungsweise in die Schale mit den «Kägi frets», dann wieder nach den Pommes Chips. Sie mag vor allem die scharf gewürzten Chips-Sorten, die sie von Zuhause her nicht kennt. Bekommt ihr Mundwerk eine Essenspause, erzählt sie von der Woche im Tessin: Campingferien, direkt am See, geschmückt mit Wandern und Baden.

Endlich Ruhe

Adriana verbringt zum dritten Mal den Sommer bei Helen, Beat und Linda Müller. Die siebenjährige Linda resümiert: «Beim ersten Mal hatte Adriana ganz lange Haare. Beim zweiten Mal ganz kurze und jetzt mittellange Haare.» Helen Müller: «Wir haben uns in den letzten Jahren immer besser kennengelernt. Wir wissen nun, wer sie ist. Sie weiss, wer wir sind.»

Adriana kommt gerne in die Schweiz, weil es ihr Zuhause nicht so gut geht. «Es ist immer so laut. Wir wohnen nahe einer Strasse», erklärt sie und erzählt von ihren fünf Geschwistern, dem Zwillingsbruder und den vier «Kleinen», mit denen sie das Zimmer teilt. Ihre Mutter ist alleinerziehend und so muss die Älteste tüchtig mitanpacken.

Schlaflose Nächte ob den weinenden Geschwisterchen im Zimmer ist Adriana gewohnt. Sie geht zwar gerne zur Schule, aber oft übernächtigt, was sich auf die Lernleistung niederschlägt. Gefragt nach den Lieblingsfächern meint sie: «Kunst, Deutsch, Sachkunde, – und die Hofpause.»

Krokodil und Vulkan

Bei Müllers hat Adriana ein eigenes Zimmer. Sie geniesst es, abends vor dem Einschlafen ungestört in Kinder- und Sachbüchern schmökern zu können. Freudestrahlend holt sie das Fotobuch hervor, das die grossen und kleinen Abenteuer während ihrer Schweizer Ferienwochen dokumentiert: Die Begegnung mit den Seepferdchen und dem Krokodil im Zoo. Das Bräteln zusammen mit allen Kindern und Eltern des Vereins Schweizer Gasteltern. Familie Müller und Adriana beim Minigolf oder das Erlebnis «1. August» mit den Höhenfeuern, Vulkanen, bengalischen Zündhölzern und Lampions.

Bastelkind – Basteltante

Adriana bastelt gerne. «Vor allem mit Stoff. Ich kann sogar schon nähen. Zuhause male ich manchmal, wenn die Kleinen endlich schlafen.» Bei Familie Müller stapeln sich die Bastelbücher im Regal, Gastmutter Helen bezeichnet sich  als «Basteltante» und so schmücken verschiedene kreative Erzeugnisse der letzten Jahre weitere Seiten im Fotobuch. Helen Müller lachend: «Letztes Jahr mussten wir ihr einen zusätzlichen Koffer mitgeben, damit sie alle selbstgemachten Geschenke mit nach Hause nehmen konnte.»

Kontrastprogramm

Helen Müller hat bereits aus Kindertagen eine Verbindung zum Thema Gastkinder: «Ins Dorf, wo ich aufgewachsen bin, kam auch jedes Jahr ein Gastkind, mit dem ich mich stets gut verstanden habe», erinnert sich die Pflegefachfrau. Vor ein paar Jahren wurde sie von Silvia Müller vom Verein Schweizer Gasteltern angesprochen und gemeinsamen kamen Helen, Beat und Linda Müller zum Schluss, sich als Gastfamilie zu engagieren.

«Mir geht es hauptsächlich um den sozialen Gedanken», sagt Beat Müller. Der 50-Jährige will Adriana das ganz normale Leben in der Schweiz zeigen: Wie er morgens in der Früh raus geht zur Arbeit als Finanzplaner bei einer Versicherung; wie er über Mittag nach Hause kommt zum gemeinsamen Essen; wie eine Familie die Freizeit auch ohne Fernseher gestalten kann.

Das tönt banal, ist aber ein fast unvorstellbares Kontrastprogramm zu Adrianas sonstigem Leben. Wie anders die Neunjährige aufwächst, weiss Familie Müller nur bruchstückhaft. So vermutet Helen Müller, dass Adriana normalerweise recht ungesund isst: «Sie kennt beispielsweise weder Früchte noch Gemüse.»

Wider das Erstarren

Der Gastelterneinsatz ist nach Ansicht von Beat Müller in erster Linie eine Planungssache. Die vier Wochen, welche die deutschen Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen in der Schweiz verbringen, sollen sowohl strukturiert, als auch mit einer Prise Feriengefühl gespickt sein. Helen Müller betont, dass man als Gasteltern wenig Dankbarkeit erwarten kann. «Was wir machen, wird von den Familien der Kinder nicht offensichtlich geschätzt», so die in der Pfarrei und im Frauenbund Engagierte.

Deshalb sei es zentral, sich den völlig anderen Lebenshintergrund der Gastkinder stets vor Augen zu halten. «Für Adriana gibt es Zuhause kein ‚Nein’, hier schon. Seit zwei Tagen spricht sie es sogar aus.» Auch Entscheidungen sind Adriana völlig fremd. «Das äussert sich dann im völligen Erstarren ob unserer mit Möglichkeiten überfrachteten Welt», beobachtet Helen Müller.

Funkstille

Adriana schüttelt den Kopf. «Ich habe kein Heimweh.» Das Handy blieb ebenfalls Zuhause, weil es eh kaputt ist. «Letztes Jahr dokumentierte ich unsere Erlebnisse und schickte ihrer Familie entsprechende Kurznachrichten», erinnert sich Helen Müller. «Das kam bei ihrer Mutter gar nicht gut an», verursachte wohl Eifersucht, vermutet die Gastmutter. Darum meldete die 50-Jährige dieses Jahr nur noch Adrianas Ankunft in der Schweiz und lässt den Austausch nun ruhen.

Tschüss Alte

Der Tapetenwechsel Leipzig-Lengnau muss für Adriana anspruchsvoll sein. Doch mittlerweile ist sie geübt. Laut Helen Müller macht sich die Umstellung vor allem im sprachlichen Ausdruck bemerkbar. «Während etwa zwei Tagen schaltet sie innerlich um und wechselt von ihrem gewohnten Slang auf eine normale Ausdrucksweise, beziehungsweise umgekehrt. So kommt es durchaus vor, dass sie mich in den letzten Tagen vor der Abreise ‚Alte’ nennt, wie sie es sich von Zuhause gewohnt ist.»

Was lange währt

Ob Adriana nächstes Jahr wieder zu Müllers in die Sommerferien kommt, ist noch offen. Helen, Beat und insbesondere ihre Tochter Linda würden sich wiederum sehr freuen über die spannende Spielgefährtin. Falls es nicht Adriana ist, können sie sich auch vorstellen, ein neues Sommerkind bei sich aufzunehmen. Die Erfahrung zeigt, dass die Gasteltern-Gastkind-Beziehung zwar durchaus herausfordernd, aber meistens langjährig ist.

Schweiz pur

Adriana lümmelt mit Linda auf dem roten Ledersofa herum und blättert nachdenklich das Fotobuch vor und zurück. Linda zeigt ein Kissen, bedruckt mit einem Foto der beiden Mädchen, das letztes Jahr entstanden ist. Ein Besuch im Openair-Kino, in einem Theater und T-Shirts-Basteln steht dieses Jahr noch auf dem Programm. Und natürlich ganz viel Rivella rot-Trinken, Cervelats und würzige Chips essen. Schweizferien pur für Sommerkind Adriana.

 

Verein Schweizer Gasteltern:
Perspektiven vermitteln

Der Verein Schweizer Gasteltern organisiert Ferienplätze für sozial benachteiligte Kinder aus dem Raum Leipzig. Die Aktion wird jeweils in den Sommerferien durchgeführt und dauert vier Wochen. Der Verein prüft und instruiert die Gastfamilien, gleist den Transport der Kinder auf und betreut die Gasteltern währen der Ferienaktion.

In der Regel sind die Kinder beim Erstbesuch zwischen sechs und neun Jahren alt und kommen danach wieder, so lange sie wollen. Heidi Dux, Marketingfrau des Vereins Schweizer Gasteltern: «Es ist unglaublich wichtig, dass wir Familien und junggebliebene Pensionäre ansprechen, so dass wir vielen Kindern in der Schweiz strukturierte Ferien vermitteln können.» Oder wie es ihr Sommerkind, das bereits zum siebten Mal bei Familie Dux weilt, ausdrückt: «Ihr hättet mich schon viel früher in die Ferien holen sollen.»

Die Vermittlung der Gastkinder findet in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) statt. Silvia Müller vom Vereinsvorstand: «Das DRK unterhält die Beziehung zu den Erziehungsberechtigten der Gastkinder und macht auch die Abklärung vor Ort, ob es sich wirklich um sozial benachteiligte Kinder handelt.» www.gasteltern.ch

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