23.03.2017

«Sexuelle Übergriffe sind Gott sei Dank Ausnahmen»

Von Andreas C. Müller

Mit einem obligatorischen Präventionskurs für alle Seelsorgenden mit Missio will das Bistum Basel sexuellen Übergriffen vorbeugen. Im März und Mai finden entsprechende Kurse im Aargau statt. Horizonte hat mit der Kursreferentin Rita Wismann-Baratto aus Suhr sowie mit Aargauer Teilnehmenden aus bereits durchgeführten Kursen in anderen Bistumsregionen gesprochen.

Ein junger Vikar, der wegen eines engen, aber wohl sicher nicht zweifelhaften Kontakts zu einem Jugendlichen in seiner Gemeinde ins Zwielicht gerät. Ein Pastoralassistent, über den Gerüchte uns Kraut schiessen, weil er wiederholt zu fortgeschrittener Stunde mit einer Frau in deren Wohnquartier auf einer Bank am Waldrand sitzt.

Seelsorgende fragen sich: «Was darf ich noch tun?»

Es sind nicht die eindeutigen Situationen, die im Kurs «Nähe und Distanz in der Pastoral» zu reden geben, sondern der «Graubereich». Entsprechend gross ist auch die Verunsicherung bei verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. «Was ist zu viel? Was darf ich noch tun? Hand auflegen oder nicht? Wie viel mag’s leiden bei den Leuten?» Solche Fragen wurden im Kurs von verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern geäussert, erinnert sich Veronika Werder aus Windisch. «Heutzutage ist in unserer Kultur einiges bereits zu viel, das zur Zeit von Jesus unproblematisch war oder in anderen Kulturen kein Problem darstellen würde. Gewisse Menschen erleben Handauflegen als wohltuend, für andere ist es eine Übergriff.» Es gelte daher, das richtige «Gspür» zu entwickeln, so Veronika Werder.

223 Fälle in sechs Jahren

Genau jene «Grauzonen» sichtbar zu machen, ist für Rita Wismann-Baratto sehr wichtig. «Sexuelle Übergriffe sind Gott sei Dank  Ausnahmen. Umso wichtiger ist es, sich mit dem Thema Nähe und Distanz zu befassen, um sich bewusst zu machen, wo Grenzverletzungen entstehen können», so die Gemeindeleiterin aus Suhr, die im März und Mai als eine der Referentinnen bei der Durchführung der Präventionskurse mitwirkt. Der Besuch eines solchen Kurses ist für Priester und Diakone, aber auch für Laieintheologinnen, bzw. Laientheologen sowie Katechetinnen und Katecheten, die mit einer Missio canonica beauftragt sind, obligatorisch.

Ein Blick in die Statistiken der Schweizerischen Bischofskonferenz (SBK) zeigt: Von den 223 Fällen, die im Zeitraum von 2010 bis 2015 für die ganze Schweiz gemeldet worden waren, ereignete sich der grösste Teil in den Jahren von 1950 bis 1990 (siehe auch Statistiken rechts). Für den Zeitraum von 2000 bis 2015 verzeichnet die Statistik der Schweizer Bischöfe allerdings wieder mehr gemeldete Übergriffe. 55 Fälle waren sexuell gefärbte Äusserungen und Gesten, alle weiteren Vorfälle erfüllten den Tatbestand von schwereren Vergehen.

Masstäbe wie für Ärzte und Therapeuten

«Für alle Formen sexueller Übergriffe gilt im Bistum die Nulltoleranz-Politik. Entsprechend arbeiten wir in den Weiterbildungskursen für das Seelsorgepersonal darauf hin, dass dieses im persönlichen Verhalten ein Bewusstsein für mögliche Abhängigkeiten und für eine entsprechend angemessene Form von Nähe und Distanz entwickelt», so Rita Wismann-Baratto, die seit drei Jahren als Ansprechperson Mitglied im «Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe im Bistum Basel» ist. «Eine Seelsorge-Beziehung darf nie in ein private Beziehung uminterpretiert werden», stellt sie klar. «Es darf nie darum gehen, dass im Kontakt zum Gegenüber eigene Bedürfnisse eine Rolle spielen.» Das sei umso wichtiger, als in der Beziehung zur Hilfe-suchenden-Person ja per se schon ein Gefälle besteht, das für Abhängigkeiten anfällig sei.

Sexuelle oder freundschaftliche Beziehungen, die sich im Rahmen kirchlicher Seelsorgetätigkeit anbahnen, sind ein absolutes «No Go». Unlängst hat Bischof Felix Gmür bereits medienwirksam die «Nulltoleranz-Politik» verkündet. Und zwar nicht nur für Priester, die sich aufgrund des Zölibats zur Keuschheit verpflichtet haben.

Für kirchliche Mitarbeitende gelten gleich strenge Massstäbe wie für Therapeuten oder Ärzte, bestätigt auch Rita Wismann-Baratto, die erst im Jahr 2010 ihr Theologiestudium abgeschlossen hat und vor sieben Jahren in die Seelsorge wechselte. Davor baute sie die Opferhilfestelle Aargau-Solothurn auf und dozierte mehrere Jahre an der Fachhochschule für Soziale Arbeit in Brugg zu den Themen Häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe an Kindern.

«Das Thema ist sehr aufgeladen, es verträgt sehr wenig»

Dass die Situation gerade in der Seelsorge schnell einmal heikel werden kann, weiss auch Kurt Grüter. Der Leiter des Pastoralraumes «Unteres Freiamt» war unter Bischof Kurt Koch Mitglied einer Expertenkommission zu sexuellen Übergriffen in der Pastoral. Als Seelsorger bewege man sich auf einem schmalen Grat, so Kurt Grüter. «Im Umgang mit Mitmenschen und Mitarbeitenden müssen wir uns immer wieder bewusst machen, wo heikle Punkte entstehen», erklärt der Seelsorger aus Wohlen und erinnert sich an ein Beispiel: «Wenn nur schon ein Seelsorger in einer Messe einem Kind die Hand auf die Schulter legte, um ihm während dem Vortrag eines Textes beizustehen, führte das zu einem Gerede. Dieses Beispiel zeigt, wie sehr das Thema aufgeladen ist. Entsprechend verträgt es sehr wenig.»

Dem aktuellen Weiterbildungskurs attestiert Kurt Grüter einen guten Zugang zur Thematik. Vergleiche man die Beispiele, die im aktuellen Kurs zur Diskussion gestellt würden, mit dem, womit er und seine Kommissionsmitglieder seinerzeit konfrontiert gewesen seien, so sei das ziemlich kongruent und nahe an der Realität. «Oft geht es ja nicht direkt um konkrete sexuelle Übergriffe, sondern um lapidare Bemerkungen oder unreflektiertes Verhalten, das zu Gerüchten und heiklen Situationen führt.»

In den aktuellen Kursen für das Seelsorgepersonal gehe es darum, die Leute an das Thema heranzuführen und entsprechend zu sensibilisieren, erklärt Rita Wismann-Baratto. «Wir klären, wo Abhängigkeitverhältnisse beginnen, was Formen der sexuellen Belästigung sind. Die Kursleiterin ist mit der Thematik bestens vertraut. «Mein Ziel ist es, den Seelsorgenden Sicherheit in diesem Thema zu geben. Sie sollen eine Bewusstseinsstärkung im Zusammenhang mit dem eigenen Verhalten erfahren, aber auch wissen, wie sie sich bei problematischen Situationen in der Gemeinde zu verhalten haben.»

Das Kursangebot kommt an

Bei den meisten Aargauer Seelsorgenden, die den Kurs bereits besucht haben, kommt der aktuelle Weiterbildungsansatz gut an. So sagt beispielsweise Marco Heinzer, Diakon und Gemeindeleiter in Buchs: «Mir ist das Thema sehr wichtig und auch, dass wir stärker sensibilisiert sind dafür. Wir sind Vertrauenspersonen, da besteht nun einmal die Gefahr von Abhängigkeit. Dessen müssen wir uns bewusst sein.» Einige Aargauer Kursabsolventen räumen zwar ein, dass sie den Kurs nicht besucht hätten, wenn dieser freiwillig gewesen wäre. Dies ist aber meist dem vollen Terminkalender geschuldet.

Die Teilnehmenden an den bisher durchgeführten Kursen schätzten vor allem den Austausch mit anderen Seelsorgenden. Gelobt wurde gegenüber Horizonte ferner die Kompetenz der Referentinnen, die Auseinandersetzung mit fiktiven Beispielen und, «dass man die Ansprechpersonen aus dem Bistum zu diesem Thema kennen lernen konnte, damit man weiss, wo man sich melden kann», so Nicole Macchia aus Riniken.

Im Verdachtsfall nicht allein handeln

Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten für sich einen konkreten Nutzen für ihren Seelsorge-Alltag ableiten. Beispielsweise, im Falle eines Falles nicht allein vorzugehen und allfällige Verdächtige nicht direkt anzusprechen, damit das Problem nicht vertuscht werde, so Georg Umbricht aus Lunkhofen.

Für Marco Heinzer aus Buchs waren unter anderem zweierlei Dinge entscheidend: «Zunächst, dass ich mit einer kritischen Perspektive in die Seelsorgegespräche gehe und mich und mein Handeln genau im Blick behalte. Andererseits aber auch, dass ich mein Team schützen muss. Im Kurs habe ich erkannt, dass das persönliche Gespräch mit einer Person alleine in einem Raum durchaus heikel werden kann.»

«Sensibilisierung erfolgte zu spät»

In die Rückmeldungen mischen sich auch kritische Stimmen von Aargauer Seelsorgenden. «Ich habe das Gefühl gehabt, dass die Sensibilisierung von Bistumsseite zu spät begonnen hat», so Simon Meier, Pastoralraumleiter in der Region Brugg-Windisch. In den Medien sei das Thema bereits vor drei, vier Jahren sehr aktuell gewesen. «Schon damals hat für mich persönlich eine Sensibilisierungsphase begonnen.»

Bernhard Lindner, Gemeindeleiter in Oeschgen bedauert «die viel zu kurz angesetzte Kurszeit» und die aus seiner Sicht zu grosse Gruppe. «Ich hätte mir gewünscht, dass es Zeit für eine tiefere persönliche Auseinandersetzung gegeben hätte. Auch denke ich, dass es in unserem Bistum einen verbindlichen Ehrenkodex geben sollte, den jeder, der in der Pastoral arbeitet, unterschreiben sollte.»

Problem: Männer unter Generalverdacht

Simon Meier bringt demgegenüber noch einen weiteren Aspekt ins Spiel, indem er sagt: Ich hätte es sehr geschätzt, wenn es eine Phase gegeben hätte, in der, nach Geschlechtern getrennt, Erfahrungsaustausch stattgefunden hätte. Als Männer haben wir oft das Gefühl, so vermute ich, viel eher unter Generalverdacht zu kommen, als wenn wir Frauen wären.»

In der Tat: Sowohl die Ansprechpersonen für sexuelle Übergriffe im Bistum Basel als auch die Referenten im Rahmen der aktuellen obligatorischen Weiterbildungsreihe sind Frauen. Auf diesen Umstand hin angesprochen, entgegnet Rita Wismann-Baratto unter Verweis auf die Natur der Sache: «Häufig sind Frauen ja auch die Opfer. Daher ist es wichtig, dass sie mit einer Frau darüber reden können.» Die Gemeindeleiterin in Suhr räumt aber ein, dass es auch männliche Opfer gebe und verweist auf die Opferhilfe Aargau-Solothurn, die Rita Wismann-Baratto viele Jahre geleitet hat: «Dort hatten wir aus diesem Grund auch einen Mann angestellt.»

Ob mit Hilfe der aktuellen Kurse sexuellen Übergriffen wirksam vorgebeugt werden kann? Wie entscheidend ist, dass diese allen Seelsorgenden mit Missio zwingend auferlegt wird? «Bei Missbrauch ist oft eine bestimmte Veranlagung im Spiel – vielleicht auch das eigene Bedürfnis nach Nähe», meint Veronika Werder aus Windisch und ergänzt: «Der Kurs hilft sicher, Menschen in der Seelsorge zu sensibilisieren, damit es – wenn immer möglich – nicht zu Übergriffen kommt oder bei Verdacht rechtzeitig reagiert werden kann.» Man sei nun als Seelsorger gefordert, das Thema in die eigenen Teams zu bringen, folgert Georg Umbricht aus Lunkhofen.

Präventionsarbeit mit Kurs nicht abgeschlossen

Auch Referentin Rita Wismann-Baratto hofft auf entsprechende Effekte in diese Richtung. Der Kurs sei bewusst durch Bischof Felix nach Rücksprache mit den staatskirchenrechtlichen Instanzen auf der Ebene der Bistumskantone für alle Seelsorgenden obligatorisch erklärt worden. «In der Regel kommen bei freiwilligen Angeboten nur diejenigen, die ohnehin bereits sensibilisiert sind. Und diejenigen, für die eine solche Weiterbildung wichtig wäre, bleiben fern.»

Wirkungsvoll vorgebeugt werden könne jedoch nur, wenn das Thema Missbrauchsfälle in den Pastoralräumen weiterhin Thema bleibe, ist Simon Meier überzeugt. «Ich denke, eine Sensibilisierung auf das Thema hat nun stattgefunden. Was im Missbrauchsfall die richtige Vorgehensweise ist, haben wir erfahren. Dies gibt uns Leitenden Sicherheit, aber am Thema dranzubleiben, wird auch in Zukunft weiterhin eine Herausforderung bleiben.»

Medientipp:

Wenn der Priester übergriffig wird…
Sternstunde Religion, Sonntag, 26. März, 10 Uhr, SRF1

Jeder Missbrauchsfall im Umfeld der Römisch-Katholischen Kirche erregt die Gemüter aufs Neue. Das zeigt das kürzlich erschienene Buch des Missbrauchsopfers Daniel Pittet aus Fribourg. Wo steht die Kirche heute in Sachen Aufarbeitung und Prävention? Bischof Felix Gmür bezieht in «Sternstunde Religion» Stellung.

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