20.10.2016

Suchen war gestern

Von Carmen Frei

Die Römisch-Katholische Landeskirche verschickte Ende Juni 2016 eine Einladung zur Schulung «Leitfaden Geschäftsführung und Archivierung mit Ordnungssystem» an alle Kirchenpflegen, Finanzverwaltungen und Pfarrämter im Aargau. Und es geschahen Zeichen und Wunder: «Wir rechneten mit rund 50 Interessierten», erinnert sich Marcel Notter, Generalsekretär der Landeskirche. «Doch es entwickelte sich eine Verdreifachung der Teilnehmenden. Wir mussten umgehend Zusatzkurse organisieren.»

Sinnigerweise war im Kirchenaargau bis letztes Jahr die Archivverordnung von 1932 gültig. Dann aber knüpfte sich ein Fachgremium aus Vertretern der Landeskirche und des Bistums, zusammen mit Experten des Staatsarchivs, Historikern und einer Erwachsenenbildnerin deren Überarbeitung vor. Per 1. Januar 2015 setzte der Kirchenrat der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau eine neue Archivverordnung in Kraft. Seit diesem Jahr schliesslich gibt es den Leitfaden «Geschäftsführung und Archivierung für Kirchgemeinden und Pfarreien». Ein Hilfsmittel, das laut Marcel Notter «schweizweit seines Gleichen sucht».

Öffentliche Gedächtnisse

Nun fragt sich der Laie, warum so viel Aufhebens um dieses Thema gemacht wird. «Die Archivierung von geschäftsrelevanten Dokumenten erfolgt nicht nur aufgrund eines gesetzlichen Auftrages», erklärt Marcel Notter und fährt voller Begeisterung fort: «Archive sind öffentliche Gedächtnisse und immateriell wichtige Werte der Gesellschaft: Sie gewährleisten Rechtssicherheit, ermöglichen den Nachvollzug von Verwaltungshandlungen, bewahren Kulturgut und bieten Gelegenheit für historische Forschungen.»

Der Wertschätzung nicht genug, ergänzt der Verwaltungsfachmann: «Ausserdem sind sie Grundlage für die Führung der Kirchgemeinde beziehungsweise der Pfarrei und die Zusammenarbeit zwischen Behördenmitgliedern und Mitarbeitenden.»

Bye-bye Bananenschachteln

Susann Gretener Jegge war als Erwachsenenbildnerin Teil der «Arbeitsgruppe Vollzugserlasse Archiv». Ihr oblag etwa die praxisnahe Formulierung des erwähnten Leitfadens. Entsprechend bildhaft tönt ihre Begründung, warum in Sachen Archivierung im Kirchenaargau vorwärts gemacht werden muss: «Wo das Archiv lediglich sechs Bananenschachteln im Estrich des Pfarrhauses umfasst, besteht Handlungsbedarf.»

Darum bietet die Landeskirche seit Mitte September 2016 Schulungen an verschiedenen Standorten im Aargau an und finanziert ergänzend eine maximal fünfstündige Beratung durch Fachleute vor Ort.

Auf zum Kulturwandel

4. Oktober, kurz vor 17 Uhr, Chorherrenhaus Baden: Dem Geheimnis nach der Erfolgsstory dieses Kurses auf der Spur. Aus allen Himmelsrichtungen treffen die Kursteilnehmerinnen und –teilnehmer ein. Marcel Notter begrüsst, Susanne Gretener Jegge und Marcel Giger, langjähriger Archivar beim Staatsarchiv Aargau, übernehmen. Wir lernen: Es geht um Kulturwandel.

Schritt I: Auf allen Stufen der Bearbeitung soll es künftig ein Ordnungssystem geben – von der Ablage im Büro des Pfarreisekretariats über die Aufbewahrung bis hin zum Archiv.

«Dieses durchgehend gleiche System ist nicht unsere Erfindung», ruft auch Susann Gretener Jegge in Erinnerung. Vielmehr sind dazu bereits seit 2006 alle öffentlich-rechtlichen Organisationen verpflichtet. Dies gemäss kantonalem Gesetz über die Information der Öffentlichkeit, den Datenschutz und das Archivwesen (IDAG). Für die Aargauer Kirchgemeinden und Pfarreien wurde eine möglichst einfache Umsetzung dieses Erlasses angestrebt.

Alle ziehen am gleichen Strick

Kulturwandel Schritt II: Alle, von der Ehrenamtlichen bis zum Profi, arbeiten mit dem gleichen System. «Ab wann muss ich jetzt unser Archiv umstellen?», fragt Kursteilnehmerin und Pfarreisekretärin Käthi Stadler aus Künten. «Ist die alte Ordnung im Archiv eine gute Ordnung, kann man sie belassen», antwortet Archivar Marcel Giger. «Es macht aber Sinn, die Ablage zum Tagesgeschäft auf das neue Ordnungssystem umzustellen. Dies am besten zu Beginn eines Geschäftsjahres.»

Im folgenden, angeregten Austausch entlarven Fachmann und Pfarreisekretärin eine typische Archivierungssünde. Marcel Giger: «Stellen Sie beim neuen Archiv sicher, dass nicht das Tablar oder der Schrank im Archiv beschriftet ist, sondern die Schachtel, in der die Dokumente gelagert werden.»

Quasi eine Neumöblierung

Überhaupt wird während der Schulung oft von Möbelstücken gesprochen. «Stellen Sie sich das neue Ordnungssystem als grosses Möbel mit verschiedenen Schubladen vor.» Schublade 1 ist der Kirchgemeinde zugeordnet. «1, weil die Kirchgemeinde 1 Ding» ist, so die Eselsbrücke von Susann Gretener Jegge oder «3 für Pfarrei, weil dort die Dreifaltigkeit zählt.»

Wird eine Schublade geöffnet, findet sich darin die immer gleiche Struktur: Grundlagen, Leitung, Ressourcen, Output, Partner. Übersetzt auf eine Kirchgemeinde würde dies heissen: Grundlagen wie Gesetze, Verordnungen, Reglemente. Leitende Organe wie Kirchgemeindeversammlung oder Kirchenpflege. Ressourcen wie Personal, Finanzen, Infrastruktur. Output wie Leistungen, Aktivitäten oder Partner wie Kooperationen, Netzwerke.

Die kollektive Ordnung

Ziel der ganzen «Übung» ist es, eine gemeinsame Sprache zu finden. Ein Ansatz, der sich bereits auf den Gemeindeverwaltungen bewährt hat. «Wechselt jemand die Stelle, findet er oder sie am neuen Ort das gleiche Ordnungssystem vor – und sich somit zugleich zurecht», erwähnen die Experten einen der Vorzüge.

Nebst einem einheitlichen System braucht der gelingende Dreischritt Ablage-Aufbewahrung-Archiv motivierte Mitwirkende mit gesundem Menschenverstand. Marcel Giger: «Oft wird mehrspurig gefahren und es bewahrt der Präsident, der Aktuar und die Finanzministerin jedes Sitzungsprotokoll der Kirchenpflege auf. Schliesslich wird alles in Ordner gepackt und in Regale gestellt, die sich bei genauer Durchsicht locker von 15 Meter auf 1,5 Meter Länge reduzieren liessen.»

ISO 9706

So richtig in Fahrt kommt Marcel Giger, als er zu einer Bilderreise durch mehr oder weniger anmächelige Aargauer Archive einlädt: Von Spinnweben bis Schimmel, von Tropenhitze bis zu viel Sonneneinstrahlung ist alles vertreten, was einem Archiv schadet. Immer wieder stoppt Marcel Giger seine Ausführungen, greift nach einer Schachtel oder einem Mäppli, erzählt von dessen Vorzügen und Nachteilen im Zusammenhang mit der Archivierung oder entführt in Wissenstiefen wie ISO 9706, der Norm für säurefreies Papier, das 200 Jahre haltbar ist. «Die schlimmste Bedrohung eines Archivs ist jedoch der desinteressierte Mensch», so der Profiarchivar.

Ressort Archiv

Deshalb empfiehlt das Expertenteam eine verantwortliche Person für das Archiv. Kursteilnehmer Stefan Michel ist freier Archivverantwortlicher in Birmenstorf. Etwa zwanzig bis dreissig Stunden pro Jahr investiert der Historiker in dieses für ihn spannende Amt. «Genau, es muss nicht immer eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter der Pfarrei sein», finden auch Susann Gretener und Marcel Giger. Eine freie Mitarbeiterin oder ein Profidienstleiter sind Alternativen.

Als zentral erachtet wird, dass die archivverantwortliche Person einen Ansprechpartner in der Kirchenpflege hat. «Mindestens ein Mal pro Amtsperiode sollte das zuständige Kirchenpflegemitglied Stichproben im Archiv machen und klären, ob es Anliegen oder Sorgen gibt», so die Kursleitung.

Time for change

Ludwig Aepli, Kirchenpfleger aus Killwangen, hört aufmerksam zu und meint nach fast vier Stunden Archivschulung: «Es war sehr interessant, aber gibt Arbeit. Vor allem frage ich mich, wie sich die anderen Kirchenpflegemitglieder und die Mitarbeitenden motivieren lassen.» Damit trifft er den wunden Punkt am Ganzen.

«Time for change» heisst es dazu in der Powerpoint-Präsentation von Susann Gretener Jegge und Marcel Giger. Ausgesprochen heisst das: «Suchen Sie das Gespräch mit allen Beteiligten. Überzeugen, motivieren Sie. Alle müssen sich hinter den Karren spannen lassen.»

Und mit einem Augenzwinkern ergänzen die Beiden: «Bei genügend Interesse könnten wir im 2017 eigentlich eine Fortsetzung dieses Kursangebots in Erwägung ziehen.»

 

 

Der Archivierungs-Schnelltest

Die Teilnehmenden des Kurses «Leitfaden Geschäftsführung und Archivierung mit Ordnungssystem» wurden zum Praxistest eingeladen, den auch Sie hiermit an einem Beispiel absolvieren können. Die fingierte Aufgabe lautet:

«Die Kirchenpflege hat vom zustimmenden Beschluss der Kirchgemeinde zum Bau eines neuen Pfarreizentrums Kenntnis genommen und beauftragt sie an der Sitzung vom 24.11.2016 mit der Eröffnung eines entsprechenden Neubaudossiers. Als erstes soll ein Architekturwettbewerb durchgeführt werden. Die Federführung in diesem Dossier obliegt Kirchenpflegemitglied Florian Holzer. Der Neubau soll 2018 in Betrieb genommen werden.

Ablage unter:

Ablageorganisation der Dossiers:

Dossiertitel:

Die Lösung lässt sich mit Hilfe des «Ordnungssystems Ausgabe 2016» der Rechts- und Dokumentensammlung auf www.kathaargau.ch finden.

 

 

 

 

 

 

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