22.09.2016

Vom positiven Hören

Von Carmen Frei

Geht es ums Glockengeläut, erschallt subito die Pro- und Contra-Diskussion. Gerne werden dabei die Lösungsmöglichkeiten überhört, welche sowohl den Glockenfreunden als auch den Glockenkritikern eine durchaus friedliche Nachbarschaft erlauben würden.

«Um die Kirchenglocken ‚positiv’ hören zu können, muss man um ihre Bedeutung wissen», findet Andres Lienhard, Pfarreiseelsorger in Dietwil und Co-Leiter des Dekanats Freiamt. Entsprechend griff am vergangenen Wochenende im Rahmen der ersten Aargauer «Langen Nacht der Kirchen» die Pfarrei St. Barbara Dietwil diesen Ansatz auf und bot Führungen hinauf in den Kirchturm an.

«Das Läuten der Glocken verbindet Himmel und Erde, die Gedanken gehen weit – in die Vergangenheit, zu Menschen auf anderen Kontinenten, zu Gott, zu unseren Verstorbenen, in unsere eigene Mitte», so Andres Lienhard, «und die Kirchenglocken verkünden, dass nicht wir Menschen die Macher der Zeit sind, so sehr wir alles organisieren – die Zeit ist ein Geschenk.»

Reaktionen auf die Läutordnung

Die Kirchenglocken in Dietwil läuten über den Stundenschlag hinaus bereits um 6 Uhr morgens, um 12 und 18 Uhr als sogenanntes Betzeitläuten. Sie läuten eine halbe Stunde vor den Gottesdiensten und ein paar Minuten davor als Einladung zum gemeinsamen Feiern. Sie läuten nach Eingang einer Todesmeldung am folgenden Tag um 8 Uhr, bei Taufen und beim Gang aufs Grab, am Freitag um 15 Uhr als Erinnerung an die Todesstunde von Jesus, am Samstag um 14 Uhr, um den Sonntag einzuläuten.

In der südlichsten Gemeinde im Aargau steht die Kirche sprichwörtlich mitten im Dorf. Dieses weist zwar nach wie vor ländlichen Charakter auf, konnte in den letzten Jahren aber einen beachtlichen Anteil an Neuzugezogenen verzeichnen. Angesprochen auf Reaktionen aus dieser Bevölkerungsgruppe sagt Andres Lienhard: «Mir wurden bisher keine Fragen zum Kirchengeläut gestellt.»

2500 digitalisierte Glockengeläute

Wie Dietwil, setzt auch die SRF-Sendung «Glocken der Heimat» auf die Vermittlung von Wissen. Etwa unter B wie Bremgarten, Stadtkirche St. Nikolaus: Im Turm hängt nach dem Kirchenband seit 1987 das bis heute grösste Gesamtgeläut der Schweiz jüngeren Datums und ist dem heiligen Nikolaus, Maria Magdalena, Angelus, Synesius, Bischof Oscar Romero und Mutter Teresa gewidmet. Diese Informationen samt Klangprobe finden sich auf der Website von Radio SRF unter dem Stichwort «Glocken der Heimat»

Glockengeläute haben eine lange Tradition bei Schweizer Radio und Fernsehen. Bereits 1925 läuteten Glocken am Schweizer Radio den Sonntag ein. Im Online-Lexikon findet sich eine Auswahl der knapp 2500 digitalisierten Glockengeläute mit zusätzlichen Informationen zu Glocken und Kirchen.

Erfolgsgeschichte «Glocken der Heimat»

Seit 14 Jahren betreut Hans-Beat Flückiger die Glocken-Rubrik. Sie wird samstagabends zunächst auf der Musikwelle und anschliessend an das «Echo der Zeit» als letzter Teil des «Zwischenhalts» auf Radio SRF 1 ausgestrahlt und verzeichnet Einschaltquoten von rund 250 000 Hörerinnen und Hörer pro Wochenende. Hans-Beat Flückiger: «In der Vergangenheit hat man mehrmals Programmänderungen vorgenommen, was aber bei einem Grossteil unserer treuen Glocken-Hörerinnen und -Hörer auf Unverständnis und Ablehnung stiess.»

Auf die Frage nach dem Erfolgsrezept der Glocken-Sendung meint der 58-Jährige: «Wie wir aus Rückmeldungen aus der Hörerschaft wissen, gehört das Geläut am Radio fest zum samstäglichen Feierabend-Ritual.» Laut Ansicht des «Glocken-Redaktors» sind die Ursachen dafür unterschiedlich. «Für die meisten steht auch im frühen 21. Jahrhundert fraglos der Begriff ‚Heimat’ im Vordergrund.» Deshalb erscheint den Radiomachern die Rubrik-Bezeichnung «Glocken der Heimat», die erstmals 1939 Aufnahme ins Radioprogramm gefunden hat, unverändert aktuell.

Pragmatische Lösungen sind gefragt

Für SRF gibt es aber noch einen weiteren wesentlichen Grund, um diese langjährige Tradition beizubehalten. Hans-Beat Flückiger: «Die Glocken-Rubrik bietet die willkommene Möglichkeit, auch kleinere Gemeinden oder in weiten Teilen unseres Landes wenig bekannte Kirchdörfer vorzustellen, die auf unserem Sender sonst kaum erwähnt würden oder wenn, dann häufig erst in Verbindung mit Negativschlagzeilen.»

Der Radiomann beschreibt sich privat als Liebhaber von klassischer Musik und Glockenklängen: «Kirchengeläut bedeutet für mich Heimat, christliches Abendland, viele positive Erlebnisse und Eindrücke seit früher Kindheit. Einen Alltag ohne Kirchenglocken ist für mich schlicht unvorstellbar. Aber: Ich habe auch Verständnis für Menschen, die Schlafprobleme haben und sich durch den nächtlichen Glockenschlag in ihrer unverzichtbaren Erholungs- und Ruhephase beeinträchtigt fühlen. Da sind pragmatische Lösungen gefragt.»

Es werde stiller

Der Forderung nach einvernehmlichen Lösungen nur beipflichten kann René Spielmann. Er leitet seit 15 Jahren die H. Rüetschi AG in Aarau. Ein Unternehmen, das sich auf Glockenguss, Kirchturmtechnik, Kunst- und Designguss spezialisiert hat. René Spielmann wünscht sich in erster Linie Debatten, die «lösungsorientiert, präzis und nicht militant» geführt werden. Mit dem Wort «militant» zielt er etwa auf die «IG Stiller» welche sich insbesondere für die Nachtruhe stark macht.

Kunstprojekte helfen

Auf deren Website www.nachtruhe.info finden sich verschiedene Nachrichten, welche den Lärm von Kirchenglocken anprangern. Generell lehnt die Interessengemeinschaft jedoch den Glockenklang nicht ab, wie eine Mitteilung von Ende August 2016 zu einem Glockenkonzert in St. Gallen beweist: «Die IG Stiller begrüsst dieses Musikprojekt, weil es sich fundamental von der Monotonie unseres traditionellen Glockengebrauchs abhebt und somit Menschen auf eine Art und Weise aufrüttelt, wie es Läuten und Zeitschlag nicht mehr vermögen. Kunstprojekte rund um Kirchtürme und Kirchenglocken können uns zudem helfen, unseren Umgang mit Glocken zu überdenken.»

In die gleiche Lärmkategorie wie regelmässig läutende Kirchenglocken reiht die «IG Stiller» Kuhglocken, Rasenmäher oder nächtliche Verkehrsrowdys ein. «Strassenlärm ist das grösste Lärmproblem der Schweiz», schreiben die IG Stiller-Aktivisten auf ihrer Website.

Parallelen zum Verkehrslärm

Zum Verkehrslärm zieht auch René Spielmann Parallelen: «Wieso muss ich das Glocken-Problem lösen, wenn die Gesetze so schlecht sind?», fragt der Unternehmer. «Aufgrund der Vielfalt an Gesetzen gelten mittlerweile für Geräuscharten verschiedene Lärmpegel.» Er bringt zwei Beispiele: «Wenn sie an verkehrsreicher Lage ein Haus bauen, wird eine lärmdämmende Fassade von Gesetzes wegen verlangt. Wenn jedoch Architekten rund um eine Kirche herum ein neues Quartier planen, sind Lärmschutzmassnahmen in Bezug auf das Geläut kaum ein Thema. In Aarau schaltete die Kirche den Stundenschlag aus, dafür wurde die Barszene aktiv, wodurch jeweils von Donnerstag- bis Samstagabend von 22 bis 1 Uhr in den Strassen Lärmwerte um die 90 Dezibel zu messen sind.»

Ästhetik des Glockenklangs

René Spielmann kommt in Fahrt: «Ja, das Thema Klang treibt mich um.» Darum beschäftigt er heute eine Hand voll Mechanik-, Maschinen- und Elektro-Ingenieure, denen die Ästhetik des Glockenklang ebenfalls zentrales Anliegen ist. «Ein guter Klang spart letztlich sogar Geld», sagt Elektro-Ingenieur Spielmann, «weil er eine Glocke weniger abnutzt.»

Glocken-Labor

Die Aarauer Glockenfachleute verharren also nicht einfach in ihrer – nächstes Jahr immerhin schon 650 Jahre langen – Tradition, sondern setzen auf Innovation. In Zusammenarbeit mit dem europäischen Kompetenzzentrum für Glocken «ProBell®», das seit zehn Jahren an der Hochschule Kempten eingerichtet ist, lassen sie fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse in ihr Handwerk einfliessen.

René Spielmann ist begeistert: «Gingen wir früher experimentell auf Lösungssuche, verfügen wir dank der Forschung über zielgerichtete Methoden mit wissenschaftliche belegten Daten die in die Herstellung der Glocken oder der Klöppel einfliessen.» Beispiel einer auf diesem Weg angepackten Kirchenglocken-Sanierung ist die Thomaskirche im Berner Liebefeld, von der in der News-Sendung von TeleBärn vom Februar 2015 unter dem Titel «Leiser die Glocken nie klingen» berichtet wird.

Läuten, nicht scherbeln

«Grundsätzlich sollen Kirchenglocken läuten nicht scherbeln. Auf der anderen Seite muss der Lärm erträglich sein», fasst Experte Spielmann zusammen. Das heisst seiner Ansicht nach auch, dass sich Architektinnen und Architekten wegbewegen müssen vom rein formalen Anspruch an einen Glockenturmbau, hin zum umfassenden Verständnis für das Instrument Glocken und dessen Behausung. Dieses Anliegen wurde durch die Architekturentwicklung vom Historismus über die Bauhauszeit hin zur Moderne in den Hintergrund gedrängt.

Kirchenpflegen sensibilisieren

Hingegen friedlich funktioniert seit letztem Jahr die Koexistenz von Wohnhäusern und Kirchturm im Bonstetter Mauritiuspark. Dafür braucht es Kirchenpflegen, die nicht einfach fundamental fürs Läuten sind, sondern sich beraten lassen, welche technischen Lösungen es heute zur Klanggestaltung gibt. René Spielmann, langjähriger Präsident der Kreiskirchgemeinde Aarau: «Ich finde, dass auch die Landeskirchen den Kirchenpflegen einheitliche Handreichungen zum Kirchenglocken-Thema zur Verfügung stellen sollten mit Informationen zur Physik, Begriffen und Messmethoden.»

Eine der Folgen der ausbleibenden Information durch die Landeskirchen ist nach Meinung von René Spielmann beispielsweise, dass die Kirchenpflegen bei Klagen im Alleingang die Läutedauer zurückstellen oder das Geläut sogar abgeschalten. «Es wäre zudem zu empfehlen, in heiklen Gemeinden die Läutordnung zusammen mit der politischen Gemeinde zu korrelieren und durch den Gemeinderat abzusegnen. Dies würde bei Problemen eine wesentlich solidere Basis der Einheitlichkeit geben.» Ein volkstümliches Schlichtungsinstrument wäre eine Umfrage, wie sie jüngst in der Nidwaldner Kirchgemeinde Ennetmoos durchgeführt wurde. «Es geht also schlicht nicht um eine einheitliche Regelung, sondern um einen Ratgeber», so René Spielmann.

Keine einheitlichen Regeln im Aargau

Luc Humbel, Kirchenratspräsident der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau: «Ich bin der Überzeugung, dass die richtige Lösung vor Ort gefunden werden muss. Es gibt keine Notwendigkeit und keine Gründe, eine Regel für alle Kirchenglocken im Aargau oder sogar in der Schweiz aufzustellen. Wenn das weltliche Geläut in der Nacht von einer Vielzahl von Nachbarn als störend empfunden würde, dann macht es kaum Sinn, daran festzuhalten. Die meisten Einwohner empfinden die Glockenschläge aber als bereichernd und nicht als störend.»

Marcel Notter, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Landeskirche im Aargau, ergänzt: «Eine Verordnung oder Weisung existiert bei uns nicht, aber es hat Hinweise zur Läutordnung im Kirchenpflegehandbuch

Politische und Kirch-Gemeinde

«Ich persönlich bin für den Erhalt des Kirchengeläuts», so Marcel Notter. «Der Stundenschlag gibt eine Orientierung, in jedem Dorf, in jeder Stadt und zu jeder Zeit. Ob es die Viertelstundenschläge durch die Nacht braucht, lasse ich offen. Mich stört das nicht.» Marcel Notter fügt, nochmals aus beruflicher Optik, an: «Grundsätzlich zuständig für das liturgische Läuten ist die Pfarreileitung, für den Stundenschlag die Kirchenpflege.» Kirchturmtechnik-Spezialist Spielmann präzisiert: «Vielerorts gehören die Uhren in den Kirchtürmen den politischen Gemeinden. Somit ist in diesen Gemeinden der Stundenschlag keine kirchliche Sache.»

Glocken drücken Emotionen aus

Es herrscht also nach wie vor bunte Meinungsvielfalt auf dem Glocken-Lösungsweg. Darob zu resignieren, ist nicht René Spielmanns Ding. «Wir sollten auch der jungen Generation den Umgang mit dieser Tradition lehren. Denn gerade wenn es ans emotionale Limit geht, helfen uns die Kirchenglocken, diese Gefühle auszudrücken.» Er erinnert nicht etwa ans Kriegsende, sondern an soziale Manifestationen in jüngerer Zeit, wie den Swissair-Absturz über Halifax oder das Attentat im Zuger Parlament, welche mit nationalem Glockengeläut untermalt wurden.

Friedvolle Botschafter

«Wegen der tiefen, reichen Botschaft der Glocken – ich meine, nicht nur für Christen – haben die Glocken für mich eine grosse Bedeutung. Wenn man um diese weiss, ist es einfacher, sie positiv zu hören», sagt Seelsorger Andres Lienhard abermals. «Und wenn ich vergleiche, was sonst alles in unseren Dörfern und Städten zu hören ist, gerade auch in der Nacht, sind die Glocken für mich sehr friedvolle Botschafter.»

Beispiel einer Klangsanierung samt Einhausung der Glocken

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