10.10.2016

Werte predigen und Stimmen fangen

Von Andreas C. Müller

Ein Drittel der Aargauer Bevölkerung ist katholisch, mehr als ein Viertel ist reformiert und über Religion wird wieder diskutiert. Gleichwohl profitieren die konfessionellen Parteien kaum davon und die Kirchen schon gar nicht. Gegenüber Horizonte gaben die vier Politfrauen Marianne Binder (CVP), Lilian Studer (EVP), Franziska Roth (SVP) und Yvonne Feri (SP) Aufschluss über die Gründe.

Frau Binder, warum wählen nur so wenig Katholiken CVP?
Marianne Binder:
Ich glaube nicht, dass Katholiken nicht CVP wählen. Aber Katholiken wählen auch andere Parteien. Das ist auch richtig so, denn wer das Gefühl hat, nur Katholiken sollen CVP wählen, hat die CVP nicht begriffen. Wir sind nicht die Kommunikationsabteilung des Vatikans. «Christlich» heisst nicht einfach «katholisch».

Aber warum tut sich die CVP so schwer mit ihrem «C»? Ein Eingeständnis, dass sich konfessionelle Partien überlebt haben?
Marianne Binder:
Mag sein, dass man sich manchmal in der Vergangenheit nicht ganz klar war, was der Wert des «C» bedeutet. Doch momentan wird nicht mehr um das «C» gerungen. Ich habe im Januar zu Beginn meiner Präsidentschaft der Aargauer Kantonalpartei klar gemacht, dass das «C» zu unserer Identität gehört. Das sieht auch die CVP Schweiz so mit ihrem neuen Präsidenten. Wir füllen das «C» mit Inhalt.

Und wie soll das geschehen?
Marianne Binder:
Christliche Werte haben unseren Rechtsstaat geprägt, die soziale Marktwirtschaft ist eine christdemokratische Erfindung. Als «C-Partei» sind wir DAS Kompetenzzentrum in Fragen des guten Zusammenlebens.

Das klingt jetzt doch sehr allgemein.
Marianne Binder:
Das «C» gehört zu unseren gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Wurzeln. Und diese sind gefährdet durch Strömungen, welche sich unsere Werte zunutze machen, um sie abzuschaffen. Entsprechend haben wir beispielsweise mit einer Motion auf die undurchsichtige Finanzierung von Moscheen und islamischen Vereinen reagiert. Wenn ich sehe, wie gewisse Islamversteher momentan vor diesen intoleranten Strömungen einer anderen Religion flach auf dem Boden liegen, das Christentum aber als etwas beinahe Peinliches abtun, dann greife ich mir an den Kopf. Ich bin sicher, mit der Betonung der christlichen Werte sind wir politisch auf dem richtigen Weg.

In solchen Aussagen erkenne ich auch die SVP wieder, bei der hinter vorgehaltener Hand so manches Parteimitglied behauptet, die Partei vertrete Katholiken mittlerweile besser als die CVP.
Franziska Roth:
Inwieweit die Religion bei der Meinungsfindung eine Rolle spielt, kann ich nicht beurteilen. Es ist jedem freigestellt, die politische Richtung zu wählen, die ihm entspricht. Ich persönlich stehe ein für christliche Grundwerte, befürworte jedoch eine Trennung von Kirche und Staat. Religion ist Privatsache.

Was haben denn Katholiken davon, wenn sie SVP wählen? Sie sagen, Frau Roth, sie stünden für christliche Werte ein. Insofern müssten sie aber eigentlich auch die Stellung der christlichen Kirchen und deren Arbeit, beispielsweise Religionsunterricht und diakonisches Engagement, unterstützen.
Franziska Roth:
Persönlich habe ich nichts gegen eine religiöse Sozialisierung. Ich wehre mich aber dagegen, dass man über die Religion politische Inhalte transportiert. Ich stelle beispielsweise fest, dass im Asylwesen durch die römisch-katholische und die protestantische Landeskirche vornehmlich linke Positionen vertreten werden.

Ja, das stimmt. Insofern, Frau Feri, müsste doch die Linke ein Interesse daran haben, die Stellung der christlichen Kirchen in unserer Gesellschaft zu verteidigen.
Yvonne Feri:
Wie unser Parteiname bereits sagt, sind wir sozialdemokratisch und nicht christlich ausgerichtet. Wir stehen für unsere Werte unabhängig von einer bestimmten Religion. Wir schätzen aber sehr, dass die Kirchen unter anderem im sozialen und Asylbereich Aufgaben wahrnehmen, die der Staat nicht wahrnehmen kann.

Und persönlich, Frau Feri? Wie haben Sie’s mit der Religion?
Yvonne Feri:
Nach wie vor bin ich Mitglied der reformierten Kirche und ich habe auch meine Töchter in diesem Glauben erzogen. In unserem Familienalltag war das insofern spürbar, dass wir jeden Abend zusammen ein Gutenachtgebet sprachen. Später haben meine Töchter den Religionsunterricht besucht und wurden auch konfirmiert.

Aber Sie haben doch eben noch gesagt, Sie seien sozialdemokratisch und nicht christlich ausgerichtet.
Yvonne Feri:
In meiner politischen Arbeit spielen für mich die Menschenrechte, die humanitäre Ausrichtung und die Gleichstellung der Geschlechter eine zentrale Rolle. Diese Werte lebe ich unabhängig von meiner Religion.

Frau Studer, als Fraktionspräsidentin der EVP bieten sie im Grunde allen Reformierten eine Partei, die deren konfessionelle Werthaltung politisch vertritt. Warum funktioniert das nicht? Mehr als ein Viertel der Aargauer Bevölkerung ist reformiert, aber die EVP hat es nie über den Rang einer Kleinstpartei hinaus geschafft?
Lilian Studer:
Die Reformierten haben immer unterschiedlich gewählt. Uns gibt es seit 1919. Wir sind zwar keine Grosspartei geworden, doch seit jeher beständig und mit Einfluss dabei. Somit verlieren wir nicht zwingend an Bedeutung. Schwierig ist es aber, noch mehr Relevanz zu bekommen.

Warum ist das so?
Lilian Studer:
Aufgrund der Art und Weise, wie wir politisieren, sind wir nicht polarisierend. Weil wir medial nicht sehr attraktiv daherkommen, lässt man uns in den Medien auch wenig zu Wort kommen. Hinzu kommt, dass wir gerade bei ethischen Themen wie der Fortpflanzungsmedizin oder der Sterbehilfe, immer wieder gegen den Strom schwimmen.

Aktuell diskutieren ja nicht nur CVP und SVP, sondern auch die SP über christliche Werte. Könnte daraus nicht auch die EVP Ende Oktober im Aargau Kapital schlagen?
Lilian Studer:
Die Rückbesinnung auf unsere Werte kann einen positiven Effekt haben. Wir hoffen, dass Christen bewusst wird, dass eine Politik auf tragenden Werten in dieser polarisierten Zeit wichtig ist.

Und wie sehen Sie die Chancen für die CVP, Frau Binder?
Marianne Binder:
Ich hoffe selbstverständlich auf einen Erfolg. Gerne schon im Herbst, dafür gebe ich alles zusammen mit der Parteileitung und dem Wahlteam. Wir hatten noch nie so viele Kandidierende, die Motivation aus allen Bezirken ist da. Wir können für uns beanspruchen, dass wir Klartext reden, gerade auch, was das «C» betrifft. Intolerante Strömungen verdienen keine Toleranz. Medial sind wir präsent. Ich erlaube mir aber auch, nüchtern zu bleiben. Wir haben grosse Wahlverluste erlitten und die Aufbauarbeit ist hart.

Wie wir soeben erfahren haben, können die christlichen Kirchen keine grosse Unterstützung von Seiten der SP und SVP erwarten. Aber wie steht es mit der CVP? Was tut Ihre Partei, damit die christlichen Kirchen nicht aus dem öffentlichen Leben gedrängt werden?
Marianne Binder:
Für den Religionsunterricht und damit verbunden für den Bibelunterricht habe ich mich immer stark gemacht, auch als ehemalige Lehrerin. Ich sehe nicht ein, weshalb das Christentum, welches unserem Rechtsstaat zugrunde liegt und unsere Kultur geprägt hat, nicht gelehrt werden soll.

 

 Hintergrund: Wahlen im Aargau 2016

Der Kanton Aargau wählt am 23. Oktober 2016 seine fünfköpfige Regierung und die 140 Mitglieder des Grossen Rats für die Legislatur 2017 bis 2020.

Der Regierungsrat setzt sich aktuell aus je einem Vertreter von CVP, Grünen, FDP, SP und SVP zusammen. Die Vertreterin der Grünen, Susanne Hochuli, aber auch CVP-Regierungsrat Roland Brogli, treten nicht mehr an. Aussichtsreiche Kandidatinnen und Kandidaten für die Wahl im Oktober sind: Stephan Attiger (FDP, bisher), Urs Hoffmann (SP, bisher), Alex Hürzeler (SVP, bisher), Markus Dieth (CVP), Yvonne Feri (SP) und Franziska Roth (SVP).

Der Grosse Rat umfasst 140 Sitze. Diese sind wie folgt auf die Parteien aufgeteilt: SVP (45 Sitze), FDP (22), SP (21), CVP (18), Grüne (10), GLP (9), BDP (6), EVP (6), EDU (2) und Parteilos (1).

Zu den Parteien mit konfessionellen Wurzeln gehören die CVP und die EVP. Gemäss dem Aargauer Historiker Linus Hüsser hatte die CVP einstmals in den ländlichen katholischen Gebieten eine grosse Anhängerschaft. Noch an den Grossratswahlen von 1989 erreichte die CVP mehr als 20 Prozent Parteistimmen. Mit fast 25 Prozent der Stimmen wurde die Partei 1981 sogar stärkste Partei. 1993 vereinigte die CVP Aargau 17.1 Prozent, bei den Grossratswahlen 2012 nur noch 13.3 Prozent der Parteistimmen. Der Einbruch dürfte mehrere Gründe haben. Das einstige  katholischen Milieu, dem der grösste Teil der CVP-Wähler entstammte, war zerfallen, die Kirchenbindung lockerte sich, weshalb auch konservativ gesinnte Katholiken nicht mehr unbedingt CVP wählten. Viele konservative Katholiken in den ländlichen Gebieten fühlten sich durch die CVP in manchen Bereichen nicht mehr vertreten. Hervorzuheben ist die von der CVP begrüsste aussenpolitische Öffnung, (Stichwort EWR-Abstimmung 1992). Konservativ Denkende aus verschiedenen Parteien schwenkten zur SVP über, die von 1986 (15.6 Prozent der Stimmen) bis 2012 (32 Prozent) ihren Stimmenanteil verdoppeln konnte. Zudem wurde die Konkurrenz für die CVP durch das Auftreten neuer Parteien grösser (Grüne, Autopartei, Mitteparteien wie BDP und GLP).

 

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