28.07.2016

«Wir werden es anders machen.»

Von Anne Burgmer

Die Themen sind untrennbar miteinander verbacken wie die Stränge eines Butterzopfs. Nur die Luftblasen in der Zopfscheibe weisen auf die ursprünglich zwei Teigrollen hin. Der Zopf gehört zum Sonntag, die Flüchtlings- und Sozialhilfethematik im Moment einmal mehr zum Aargau. Der Umgang mit ihr unterscheidet sich – je nach Amt und Auftrag.

Fünf und sieben Jahre, solange übernehmen Kanton und Bund bei positivem Asyl-Entscheid und je nach Status die Finanzierung von Asylbewerbern ab Einreise in die Schweiz. «Man geht davon aus, dass die anerkannten (B-Bewilligung)  oder vorläufig aufgenommenen (F-Bewilligung) Flüchtlinge innert dieser Fristen soweit in die Gesellschaft integriert sind, dass sie wirtschaftlich auf eigenen Füssen stehen können», sagt Martina Bircher, SVP Gemeinderätin und Sozialvorsteherin der Gemeinde Aarburg.

Finanzrisiko bei den Gemeinden

Was in der Theorie geplant wurde, geht in der Praxis oft nicht auf. Integration, auch in den Arbeitsmarkt, gelingt nicht zwingend innerhalb bestimmter Fristen. Sie hängt von zu vielen Faktoren ab. Anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge rutschen deshalb im Verhältnis öfter in die Sozialhilfe als andere Einwohner. Endet die Finanzierung durch Bund und Kanton, müssen im Aargau die Gemeinden zahlen. «2001 hat der Kanton Aargau die Zuständigkeit der Flüchtlingsbetreuung an die Gemeinden gegeben», sagt Anouk Zumstein, Bereichsleiterin Flüchtlingsberatung Caritas Aargau.

Gemeinden mit günstigem Wohnraum ziehen vermehrt finanzschwächere Menschen an. Egal, ob Flüchtlinge oder Einheimische. Für die Gemeinden ein Finanzrisiko. Leben bereits Flüchtlinge einer bestimmten Nation am Ort, lassen sich oft weitere Menschen gleicher Nationalität dort nieder. «Das ist menschlich nachvollziehbar. Doch in Aarburg kommen wir an die Grenzen. Die Steuereinnahmen gehen grösstenteils für die Soziale Wohlfahrt weg, selbst mit Finanzausgleich und Sonderzahlung erwirtschaften wir immer noch ein Defizit», sagt Martina Bircher.

Auch andere Gemeinden haben Angst vor finanzieller Mehrbelastung durch anerkannte Flüchtlinge. Der Gemeinderat von Rekingen rief in seinem Publikationsorgan «Strichpunkt» (5/2016) dazu auf, «künftig von Mietverträgen mit Asylanten Status B abzusehen.» Und in einem Nachsatz, der fast untergeht: «Dieselbe Problematik besteht leider bei sämtlichen Empfängern von materieller Hilfe.»

Integration, weil die Menschen bleiben

«Was Rekingen jetzt erlebt, hat in Aarburg bereits 2008 angefangen», sagt Martina Bircher. Mit ihrem Amtsantritt 2014 machte sie die Zahlen für Aarburg transparent: Die Gemeinde hat mit 5,9 Prozent die höchste Quote bei Sozialhilfeempfängern im Kanton. Der Ausländeranteil in der Gemeinde liegt bei 43 Prozent; Flüchtlinge sind überdurchschnittlich oft in der Sozialhilfe, sie machen 45% aller Sozialhilfeempfänger aus.

Martina Bircher lässt keinen Zweifel daran, was sie als ihre Aufgabe versteht: «Ich will die Zahlen runter bekommen. Mir ist letztlich egal, ob die Sozialhilfeempfänger anerkannte Flüchtlinge, Ausländer mit C-Bewilligung oder Schweizer sind». Da argumentiert sie auch gegen die SVP-Mutterpartei: «Es ist falsch, zu sagen, die müssen alle wieder gehen. Diese Menschen haben eine B-, teils eine C-Bewilligung. Damit haben sie die rechtliche Legitimation, ihr Leben in der Schweiz zu verbringen und müssen deshalb integriert werden».

Die Massnahmen sind zahlreich: Deutschkurse, Weiterbildungs- und Schulungsangebote, Unterstützung bei Ämtergängen. Die Kultur des unbekannten Landes Schweiz soll erlernt und verstanden werden. Viel hängt davon ab, ob Flüchtlinge in ihrem Heimatland schon zur Schule gegangen sind, ob sie bereits eine Ausbildung haben, ob sie vom Land oder aus einer Stadt kommen, oder wie motiviert sie sind. Und auch, ob sie aufgrund von Krieg und Flucht traumatisiert sind.

In den 213 Aargauer Gemeinden wird die Begleitung der Flüchtlinge durch Sozialdienste, private Anbieter oder in Zusammenarbeit mit Caritas Aargau geleistet. Anouk Zumstein erläutert: «Die Caritas Aargau ist ab Zuzug in eine Vertragsgemeinde für die anerkannten oder vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge zuständig. Manchmal dauert das Asylverfahren und die Wohnungssuche allerdings so lange, dass wir die betreffende Person nur kurz begleiten können». Kurt Brand, Co-Geschäftsführer Caritas Aargau, schreibt: «Caritas hat das Mandat für die Flüchtlingsbetreuung von rund 25 Gemeinden, zahlenmässig sind es rund 600 Personen». Die Zusammenarbeit sei meisten gut bis sehr gut.

Um welche Interessen geht es?

In Aarburg war man unzufrieden und hat die Leistungsvereinbarung per Ende Jahr gekündigt. Auf der Juni-Gemeindeversammlung wurde dieser Entscheid bekanntgeben, gelangte dann in die Presse. «Die Caritas hat für mein Verständnis ihre Arbeit nicht gemacht. Und ich habe Mühe damit, wenn sie als Auftragnehmerin einerseits die Interessen der Gemeinde vertreten soll, gleichzeig aber als Anwalt der Flüchtlinge auftritt», sagt Martina Bircher.

Auf diese Aussage angesprochen, schreibt Kurt Brand: «Man kann von einem dreifachen Mandat sprechen. Es geht beim Auftrag darum, die Interessen der Gemeinde als Auftraggeberin, die Interessen der Flüchtlinge und das Leitbild der Caritas unter einen Hut zu bringen. Bei der gegenwärtigen sozialpolitischen Lage ist dies manchmal eine Herausforderung.» Zur Zusammenarbeit mit der Gemeinde Aarburg wolle er weiter nichts sagen, der Auftrag sei aus Sicht der Caritas aber erfüllt worden. Was andere Gemeinden angehe, so gebe es eine «normale Fluktuation» bei den Aufträgen.

Am Beispiel Aarburg werden die unterschiedlichen Ansätze im Umgang mit der Thematik deutlich. Gemeinderäte wollen die finanzielle Belastung so gering wie möglich halten. Die Caritas steht in einer humanitäre Tradition. Sie möchte keine Lösungen auf Kosten der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.

Vielleicht sind ungewohnte Wege nötig

Der eingangs erwähnte Zopf verdeutlicht: Aus zwei Themen ist eine dichte Einheit geworden. Patrizia Bertschi vom Netwerk Asyl Aargau sagt denn auch: «Ich denke, bei dem komplexen Thema sollte man das eine tun und das andere nicht lassen. Eine Schwierigkeit bei der Arbeit der Caritas ist die örtliche Distanz zu den Klienten. Sie ist nicht überall vor Ort in den Gemeinden. Der Vorteil von Integration durch die Gemeinden ist: Die Mitarbeiter sind nah an den Menschen. Dazu ist allerdings gut geschultes Personal nötig. Der Vorteil der Caritas Aargau ist, sie hat ein unglaublich gutes Netzwerk. Davon können Gemeinden profitieren.»

Ziel der Integration von Flüchtlingen ist idealerweise deren finanzielle Selbstständigkeit. Das ist Konsens. Die übermässige Belastung einzelner Gemeinden wird ebenfalls von allen kritisch betrachtet. Caritas Aargau betont mit Blick auf Rekingen, dass «bis zum Jahre 2001 der Kanton die Sozialhilfe für Ausländer und Flüchtlinge vollumfänglich trug – gerade um strukturschwache Gemeinden nicht übermässig zu belasten».

Lösungen müssen her. Ideen gibt es viele (siehe Links unten). «In der Wirtschaft werden immer wieder Projektphasen lanciert, um zu schauen, was funktioniert und was nicht», sagt Martina Bircher. Sie gibt unumwunden zu, dass «wir keine Gewissheit haben, ob wir es mit unseren Kräften vor Ort besser machen. Doch wir werden es anders machen, die Caritas hat ja die Messlatte nicht hoch gelegt».

Ausprobieren. Im Bild des Butterzopfs geht es nun um den Belag. Ein Blick in die Confiserie-Branche zeigt: Oft schmecken gerade überraschende Kombinationen. Zum Beispiel Schokolade mit Salz.

 

Hier finden Sie einige Links zum Thema

Freiwillige helfen bei der Integration – Regional Aargau, 21. Juni 2016

Neues Sozialhilfe-System für Flüchtlinge – az, 23. Juli 2016

Menschenunwürdige Polemik – Medienmitteilung Caritas Aargau zu Rekingen, 19 Juli 2016

Oberste Aargauerin Gemeindevertreterin will Sozialhilfe für Flüchtlinge halbieren – az, 14. Juli 2016

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