02.12.2020

Die Caritas ist in der Corona-Pandemie gefordert
«Eine Herausforderung für die Gesellschaft»

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Ausnahmesituationen wie die Corona-Pandemie zeigen, wo das Schweizer Sozialsystem Lücken aufweist. Das sagt Fabienne Notter, Geschäftsleiterin der Caritas Aargau.
  • Eine der Herausforderungen von Corona besteht darin, dass nun ein ganz neues Segment von Menschen von Armut betroffen ist.
  • Im Interview mit Horizonte erklärt Fabienne Notter, woran man Armut erkennt und warum der Kampf dagegen letztlich allen zu Gute kommt.

Fabienne Notter, im Frühling erhielt die Caritas einen grossen Betrag aus der Glückskette-Sammlung «Corona-Hilfe Schweiz». Weshalb soll ich der Caritas Aargau trotzdem eine Weihnachtsspende machen?
Fabienne Notter: Die Glückskette-Spenden an die Caritas sind sehr hilfreich. Ich bin froh, wurde die Sammlung fürs Inland gemacht. Das Geld verwenden wir für Direkthilfe im Rahmen unserer Sozialberatung, die Vergabe ist an strenge Auflagen gebunden. So profitieren nur Leute davon, deren Notlage in engem Zusammenhang mit der Corona-Pandemie steht. Die Beträge sind gedeckelt, so dass wir maximal 1000 Franken pro Person oder 3000 Franken pro Familie auszahlen können. Die Direkthilfe ist immer an ein Beratungsgespräch gebunden. Die Glückskette-Gelder werden in naher Zukunft aufgebraucht sein, die zeitintensiven Beratungsgespräche und die Direkthilfe sind jedoch weiter nötig, der Bedarf dürfte sogar noch zunehmen. Die Caritas Aargau ist daher froh um jede Spende. 

Verzeichnet die Caritas Aargau eine Zunahme an Menschen, die Hilfe suchen?
Ja, ganz klar. Bereits im Oktober 2020 haben wir auf den Kirchlichen Regionalen Sozialdiensten die Gesamtzahl der subsidiären Sozialberatungen vom letzten Jahr überschritten.

Sind laufende Projekte der Caritas durch Corona gefährdet? 
Im Vergleich zum Lockdown vom Frühling ist die Situation jetzt einfacher. Wir versuchen, die Projekte anzupassen, so dass sie weiterlaufen können. Nehmen wir als Beispiel die «Femmes-Tische», wo Frauen sich austauschen und vernetzen. Diese Treffen finden jetzt vermehrt digital statt. Das Aufgleisen solcher Anpassungen braucht zwar ebenfalls wieder Zeit und Geld. Doch es ist wertvoll, dass dieser Anschluss bestehen bleibt, damit die Frauen nicht isoliert sind, sondern die schwierige Situation gemeinsam meistern können.

Mit welchen Problemen kämpfen Menschen, die eine Sozialberatung aufsuchen?
Probleme, die unsere Klienten in dieser Krise vor allem beschäftigen, sind finanzielle Engpässe und die Angst, Sozialhilfe beziehen zu müssen. Dazu kommt – bei Menschen mit Migrationshintergrund – die Angst, wegen Sozialhilfebezug in der Aufenthaltsbewilligung zurückgestuft zu werden. Momentan finden viele Angestellte aus der Gastro- oder Reinigungsbranche den Weg zu uns. Sie arbeiten häufig in unsicherer Anstellung, im Stundenlohn oder auf Abruf. Mit Beginn der Pandemie fiel ihr Einkommen zu einem grossen Teil weg.

Ein starkes Zeichen setzen

Aktion «Eine Million Sterne». © Werner Rolli
 

Am 12. Dezember 2020 ist es soweit: «Eine Million Sterne» werden wieder für Solidarität mit Armutsbetroffenen in der Schweiz leuchten. Ein starkes Zeichen zu setzen, war noch nie so wichtig! Mit «Eine Million Sterne» setzen wir jedes Jahr ein starkes Signal der Solidarität mit Menschen, die kaum Geld zum Leben haben. Doch die Corona-Krise hat nicht nur Armutsbetroffene hart getroffen, sondern auch solche Menschen, die stets auf der sicheren Seite waren. Unsere Solidarität ist also gefragter denn je. Gemeinsam setzen wir mit einem Lichtermeer ein Zeichen gegen Armut in der Schweiz – digital oder an den angegebenen Orten.

Welche Entwicklung zeichnet sich für die kommenden Monate ab?
Menschen, die vorher schon Mühe hatten durchzukommen, gerieten wegen Corona in akute Not. Doch es zeichnet sich ab, dass wegen der Pandemie ein neues Segment von Menschen plötzlich von Armut betroffen ist. Kunstschaffende zum Beispiel oder Leute aus der Eventbranche. Da wird eine grosse Herausforderung auf die Gesellschaft zukommen. Das einzig Gute daran scheint mir, dass die Hemmschwelle gesunken ist, Hilfe anzunehmen.

Wie kann die Gesellschaft diese Herausforderung angehen?
Die Schweiz hat ein gut funktionierendes Sozialsystem. Ausnahmesituationen wie die Corona-Pandemie zeigen aber, wo das System Lücken aufweist. Um diese Lücken zu schliessen, hoffe ich auch auf Lösungen durch Bund und Kantone. Denn dass die Grundversorgung gewährleistet ist und die Gesellschaft physisch und psychisch gesund bleibt, ist nicht bloss ein soziales Anliegen, sondern auch ökonomisch sinnvoll.

Von Armut Betroffene zeigen ihre Not gegen Aussen meist nicht. Welche Anzeichen gibt es? Und wie unterstützt man Armutsbetroffene im Bekanntenkreis am besten? 
Leute in der Schweiz versuchen meist, ihr Gesicht zu wahren. Ein Anzeichen für Armut kann es sein, wenn die Leute nicht mehr am sozialen Leben teilnehmen. So kann es sein, dass sie eine Einladung nicht annehmen, aus Angst, sich eine Gegeneinladung nicht leisten zu können. Nimmt man einen solchen Rückzug wahr, plädiere ich dafür, das Tabuthema vorsichtig anzusprechen. Man kann anbieten, Zeit miteinander zu verbringen oder mit den Kindern etwas zu unternehmen. Einfache, kleine Dinge. Meist ist es sinnvoller und nachhaltiger, fachliche und monetäre Hilfe zu vermitteln, statt selber Geld zu geben. Zum Beispiel, indem man Menschen auf die – oft sehr niederschwelligen – Angebote der Caritas verweist.  

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