19.04.2021

Seelsorgerin Veronika Scozzafava arbeitet mit an Demenz erkrankten Menschen
Seelsorge Richtung «hinderzi»

Von Cornelia Suter

  • Veronika Scozzafava arbeitet als Seelsorgerin seit knapp einem Jahr im Reusspark in Niederwil AG. 
  • Viele Ihrer BewohnerInnen sind krank. Leiden beispielsweise an der unheilbaren Krankheit Demenz. Eine seelsorgerische Herausforderung, wenn man jeden Tag wieder bei «Null» beginnen muss.
  • Zusammen mit Ihrem reformierten Kollegen betreut Veronika Scozzafava fast 300 Bewohnerinnen und Bewohner. 


Frau Scozzafava, Sie sind Seelsorgerin im Reusspark. Können Sie uns Ihren Arbeitsalltag beschreiben?
Veronika Scozzafava:
Spannend, abwechslungsreich und bereichernd. Jeden Tag lerne ich etwas Neues über die BewohnerInnen, über mich, und Gottes Präsenz in dieser Welt! Doch nun etwas detaillierter: Als erstes rufe ich die E-Mails ab und schaue, ob es besondere Anliegen oder Vorkommnisse gegeben hat. Dann führt mich mein Weg in unsere wunderschöne Klosterkapelle, in der ich bei einem Gebet die Bewohnerinnen und Bewohner und besonderes auch das Pflegepersonal unter Gottes Schutz und Fürsorge stelle. Dann bitte ich den Heiligen Geist, er möge mich auf meinem Weg durch den Reusspark begleiten und mich dorthin führen, wo ich gerade am meisten gebraucht werde.

Sie arbeiten auch mit demenzerkrankten Menschen, was zeichnet diese Arbeit aus?
Je nach Fortschritt der Erkrankung sind verschiedene Bedürfnisse gefragt. Es gibt BewohnerInnen, die können sich differenziert und zusammenhängend äussern. Bei anderen ist es wichtig, in kurzen und einfachen Sätzen zu sprechen. Wieder andere sprechen gar nicht und da sind Mimik, Nähe und Berührung wichtige Elemente.
Tragend sind Zeit und Geduld. Manchmal sitze ich einfach nur da, halte die Hand und bin einfach ganz im Sein mit dem Mensch, der mir gegenüber ist. Doch so ruhig sich das auch anhören mag, die Präsenz ist hundert Prozent. Denn immer kann sich etwas bewegen, werden Gedanken wach und wollen in Worte gefasst werden. Gefühle werden ausgedrückt, vielleicht mit Weinen, Lachen, Zärtlichkeit, Aggression oder Gesang. Das heisst für mich, stets bereit zu sein, für das, was sich öffnet auch wenn es nur für eine ganz kurze Zeit ist. Denn in diesem gescheckten Zeitfenster kann ich Kontakt mit der Seele aufnehmen und ein kleines Licht hineinstellen.

Viele Gespräche haben die Bewohner beim Ihrem nächsten Besuch wieder vergessen. Eine schwierige Aufgabe?
Eigentlich finde ich das sehr schön. Denn es zeigt mir, was noch ungelöst, belastend und lebendig ist oder was das Herz erfreut. Bei einer Demenzerkrankung sind die Gedanken oftmals Richtung «hinderzi». Eine Frau erzählte mir immer wieder von ihrer schweren Kindheit und wie sehr sie unter ihrem Vater gelitten hat, an seiner Strenge und Lieblosigkeit. Sie hatte jedoch einen guten und fürsorglichen Mann geheiratet und war glücklich mit ihm. Das Bild von ihrem Ehemann nahm immer mehr Patz ein und irgendwann erwähnte sie ihren Vater nur noch am Rande. 

Menschen mit einer Demenzerkrankung sind oft starken Stimmungsschwankungen ausgesetzt, wie gehen Sie damit um?
Demenzerkrankte Menschen sind sehr gefühlsbetont und direkt. Wenn es zu laut ist, oder Unstimmigkeiten vorherrschen, wenn irgendetwas sie plagt, sind die Reaktionen unmissverständlich. Dann braucht es Geduld und Empathie. Richtet sich Wut und Aggression gegen mich,  muss ich warten. Ich versuche nach einer halben Stunde nochmals den Kontakt aufzunehmen. Und wenn das nicht geht, gibt es bestimmt wieder neue Gelegenheiten! Es muss nichts erzwungen werden. Es richtet sich ja nicht gegen mich persönlich, sondern ich bin in diesem Moment einfach der «Blitzableiter». Weniger gut sind Trauer und Tränen abzufangen, weil die Seele bis ins Innerste erschüttert und verletzt ist. Da finden sich oft keine Worte, sondern es gilt mitzutragen und zu zeigen: Ich bin da und sehe den Schmerz.

Können Sie uns ein Beispiel dazu nennen?
Eine Frau zeigte mir begeistert ein Fotoalbum. Da sind alle Geschwister zu sehen. Sie erzählt voller Freude, wie gut sie es alle zusammen haben. Sie erzählt von ihrem Elternhaus und der glücklichen Kindheit. Plötzlich verfinstert sich ihr Blick: «Das ist mein Schwager. Ja, er hat ja dieses grosse Fest organisiert. Und er hat mir gesagt, meine Eltern sind gestorben… Ich habe keine Eltern mehr, sie sind letzte Woche verstorben! Ich bin so allein…» und sie beginnt zu weinen und weiss nicht mehr ein und aus.

Momentan beteiligt sich der Reusspark an der Studie «Musikspiegel» der Universität Zürich. Wie stark machen Sie bei Ihrer seelsorgerischen Arbeit von der Musik Gebrauch?
Musik ist ein wichtiger Teil in meiner Arbeit. Musik öffnet den Zugang zur Seele. Wort und Ton ergeben viel mehr als ein ganzes. Musik führt uns in eine andere Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, in der wir leicht, mutig, verletzlich, dankbar, fliessend sein dürfen, zart und fein. Sie lässt uns träumen und zugleich wachsein. Musik hilft uns, unseren Emotionen freien Lauf zu geben. Sie reinigt, heilt und stärkt.

Machen Sie spezielle Angebote für Menschen mit einer Demenzerkrankung? Gerade jetzt während der Coronazeit?
Was ich im Moment anbieten kann, sind Gottesdienste auf den Wohngruppen. Diese persönlichen Feiern lassen Raum für das individuelle Geschehen. Ich kann mich ganz auf die Menschen einlassen und auf Äusserungen und Gesten unmittelbar eingehen. Viele haben Beziehungen zu bekannten Gebeten, wie das «Vater unser» oder das «Gegrüsst seist du Maria». Schutzengelgebete oder einfache Nachtgebete werden oft erkannt und mitgebetet. Ebenso traditionelle Kirchenlieder wie «Grosser Gott wir loben dich» oder «Maria zu lieben» wecken Erinnerungen und öffnen einen Heiligen Boden. Ich arbeite auch gerne mit einfachen Bildern, in denen das Wesentliche auf den ersten Blick erkennbar ist. Mit Farben, Düften und Musik lassen sich die Sinne öffnen und damit auch die Seele.

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