14.11.2018

SBI: «Ein Angriff auf die Gewaltenteilung»

Von Andreas C. Müller

  • Am 25. November wird wieder abgestimmt. Von allen nationalen Vorlagen polarisiert die Selbstbestimmungsinitiative am meisten: Sie mobilisiert nebst der Politik und den Wirtschaftsverbänden auch Kirchen und NGOs.
  • Während im Aargau die Reformierte Landeskirche klar gegen die Selbstbestimmungsinitiative Position bezieht, verzichtet die Römisch-Katholische Landeskirche auf eine Stellungnahme.

 

Für einmal verkehrte Welt: Im Abstimmungskampf zur Selbstbestimmungsinitiative greift die Linke zum visuellen Zweihänder. Trump neben Putin und Erdogan: «Die Schweiz macht nicht mit», lautet der Slogan zum Plakat, das die oben erwähnten Staatführer zeigt. Die Menschenrechte sollen in der Schweiz nicht geritzt werden, so die Botschaft der SP. Der Selbstbestimmungsinitiative der SVP unterstellt die SP ein ähnliches Gebaren wie den Präsidenten von Amerika, Russland und der Türkei. Demgegenüber gibt sich die SVP ganz auf zurückhaltend und wirbt auf ihren Plakaten nüchtern für ein «Ja zur direkten Demokratie».

Die Neuauflage der Zitterpartie «Alle gegen die SVP»

Wie schon so oft steht die SVP mit ihrem Anliegen allein einer bereiten Allianz von Parteien und Wirtschaftsverbänden gegenüber. Und einmal mehr liefern sich Befürworter und Gegner einen heissen Schlagabtausch unter Einsatz enormer Ressourcen. Allein Economiesuisse liess 2,2 Millionen «Abstimmungszeitungen» verteilen, und in den Medien werden fleissig Inserate geschaltet. Und der Einsatz scheint sich gelohnt zu haben: Die jüngste, von Schweizer Radio und Fernsehen SRF beim Institut GFS Bern in Auftrag gegebene Umfrage sieht die Gegner der Initiative nun deutlich im Vorteil.

Wirtschaftsverbände warnen, die SVP-Initiative bedeute «Rechtsunsicherheit» (der Aargauer FDP-Ständerat Philipp Müller), die Gefährdung «unserer Stabilität und Verlässlichkeit» (Bundesrätin Simonetta Sommaruga) und wirtschaftlichen Schaden für die Exportnation Schweiz (Heinz Karrer, Präsident Economiesuisse).

Eine Frage des Umgangs mit Minderheiten

Auch viele kirchliche Organisationen haben sich einem Nein-Komitee angeschlossen. Für Bundesrätin Simonetta Sommaruga absolut nachvollziehbar, denn die SVP-Initiative werfe die Frage auf, «ob wir weiterhin bereit sind, die Rechte der Schwächsten zu schützen» (vgl. «reformiert» Nr. 11, November 2018). Thomas Wallimann-Sasaki, Leiter des Zürcher Instituts für Sozialethik «ethik22», meint: «Es ist eigentlich schade, dass die Abstimmung über die gesetzliche Überwachung von Sozialversicherten (Anmerkung der Redaktion: Siehe auch Begleittext) im Windschatten des Abstimmungskampfes zur Selbstbestimmungsinitiative läuft. Diese Vorlage richtet sich noch viel stärker gegen die sozial Schwachen, für welche die Kirchen eintreten sollten».

«Kein Schutz mehr für Minderheiten»

Dann jedoch kommt Thomas Wallimann-Sasaki auf die Selbstbestimmungsinitiative zu sprechen. Zu dieser findet der Sozialethiker, der auch als Präsident der bischöflichen Kommission «Justitia et Pax» amtet – also dem politischen Sprachrohr der Bischöfe, deutliche Worte: «Das ist ein Angriff auf die Gewaltenteilung in der Demokratie. Behörden und Instanzen würden systematisch schlechtgemacht. Heute ist es Strassburg, morgen Brüssel und übermorgen Bern.» Eine gefährliche Entwicklung, die man vor etwas weniger als 100 Jahren in Europa schon einmal gesehen habe und die sich nun in vielen Ländern wiederhole.

Was die Annahme der Initiative im Einzelnen bedeute, sei noch nicht absehbar, so Thomas Wallimann-Sasaki. «Es ist aber gut möglich, dass im Extremfall die Rechte von Minderheiten beschnitten werden.» Mit der absoluten Voranstellung von Schweizer Recht vor internationalem Recht seien Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Schweiz nicht mehr bindend. Der einzelne Bürger habe demnach keine Instanz mehr, die für ihn bei «Rechtsverletzungen durch den Staat» als Autorität anerkannt werde. Was das bedeute, sei bis anhin schlüssig am Beispiel der Entschädigungsklage für Asbestopfer aufgezeigt worden.

«SVP mit taktischer Meisterleistung»

Als das spürbar grössere Risiko erachtet der Sozialethiker jedoch den wirtschaftlichen Schaden, den eine Annahme der Initiative nach sich ziehen wird. «Gut möglich, dass Unternehmen ihre Produkte in Europa künftig nicht mehr so ohne Weiteres verkaufen können. Oder man wird Garantien verlangen.»

Das Gefährliche aus Sicht von Thomas Wallimann-Sasaki: «Der SVP ist in diesem Wahlkampf eine taktische Meisterleistung gelungen. Vom negativen Begriff der fremden Richter haben sich die Initianten mehrheitlich gelöst. Selbstbestimmung und Direkte Demokratie werden ins Feld geführt – alles positiv besetzte Begriffe. Und die Gegner haben es in ihrer Argumentation deutlich schwieriger: Um zu erklären, worum es geht, um die Argumente der Initianten zu entkräften, brauchen sie stets mehrere Sätze.»

Was Thomas Wallimann-Sasaki damit meint, erklärt er an meinem Beispiel: Auf Plakaten warnen die Initiativgegner, dass sich das Volksbegehren der SVP gegen die Menschenrechte richte. Dem widersprechen die Befürworter. Fakt sei: «Nach Annahme der Initiative kann die Rechtssprechung in der Schweiz nur mehr bedingt an den Menschenrechten gemessen und entsprechend korrigiert werden. Der Unterschied zwischen „zwingenden“ Menschenrechten und „den andern“ ist nicht so einfach in eine Schlagzeile zu bringen.» Aber so könne man im Abstimmungskampf auf Plakaten fast nicht argumentieren. Die Gegner müssten den Sachverhalt verkürzen und bieten den Befürwortern so Angriffsfläche.

Kirchenvertreter kämpfen auf Social Media

Religions- und Kirchenvertreter legen sich derweil im Abstimmungskampf mächtig ins Zeug und ernten dafür sogar Lob von Bundesjustizministerin Simonetta Sommaruga: «Dieses Engagement ist sehr wichtig», erklärte die Bundesrätin gegenüber «reformiert». Nebst den Medienverlautbarungen von christlichen Hilfswerken wie Fastenopfer, HEKS und Caritas, den Stellungnahmen der bischöflichen Kommission «Justitia und Pax» und zahlreichen Landeskirchen sticht auch persönliches Engagement ins Auge: Auf Social Media-Kanälen engagieren sich beispielsweise vier ehemalige Sprecherinnen und Sprecher des «Wort zum Sonntag» – darunter der Aargauer Martin Kuse – mit kurzen Video-Beiträgen gegen die Selbstbestimmungsinitiative der SVP. Für Martin Kuse, reformierter Pfarrer in Möriken-Wildegg, ist die Europäische Menschenrechtskonvention «eine der grössten Errungenschaften der Menschheit überhaupt». Er spielt damit auf den Schutz von Benachteiligten an, der historisch gewachsen und heutzutage ein breiter Konsens sei. «Ihr Wort (Anmerkung der Redaktion: Gemeint ist die Europäische Menschenrechtskonvention) hat bei vielen Menschen in der Schweiz Gewicht.»

Die Videos, die von der Gestaltung her an das «Wort zum Sonntag» erinnern, wurden von der «Allianz der Zivilgesellschaft» produziert. Über hundert Organisationen machen in dieser gegen die SVP-Initiative mobil. Mit dabei: Die bischöfliche Nationalkommission «Justitia et Pax», Caritas Schweiz, Fastenopfer, Brot für alle, der Schweizerische Katholische Frauenbund, das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz HEKS, die Interreligiöse Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz oder auch das Haus der Religionen in Bern.

Diesen Montag erst versandte die bischöfliche Kommission «Justitia et Pax» eine Medienmitteilung, in der sie ein «Nein bei der Abstimmung über die Selbstbestimmungsinitiative» empfahl. Diese beschneide «die souveräne Freiheit aller», heisst es in der Mitteilung. Und weiter: «Der Schweizer Souverän, sprich die Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, soll bei allen Dingen das letzte Wort haben. Für Minderheiten und Betroffene gäbe es im Konfliktfall keine oder nur noch eingeschränkte Rekursmöglichkeiten».

Aargau: Reformierte dagegen, Katholiken schweigen

Im Aargau empfiehlt die Reformierte Landeskirche Aargau die Selbstbestimmungsinitiative zur Ablehnung. Wörtlich heisst es von Seiten des Kirchenrates: «Wie schon für den Bundesrat und die Mehrheit von National- und Ständerat stehe es ausser Frage, dass der Grundrechtsschutz der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Schweiz weiterhin Geltung haben muss. Er ruft die Stimmberechtigten deshalb auf, bei der Entscheidungsfindung diesen eng mit den christlichen Werten und Traditionen verknüpften Aspekten besondere Beachtung zu schenken und die Selbstbestimmungsinitiative abzulehnen.» und weiter: Der Ausdruck «fremde Richter» dürfe in der Diskussion nicht dazu verwendet werden, Richterinnen und Richter auf internationaler Ebene zu diffamieren.

Keine Stellungnahme hingegen von der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau. Kirchenratspräsident Luc Humbel dazu: «Da es sich um eine nationale Abstimmung handelt, geben wir keine Empfehlung oder Haltung kund. Wir sind bei nationalen Abstimmungen sehr zurückhaltend.» Auch die Aargauer Sektion des Katholischen Frauenbundes will nicht allzu offensiv agieren. Vorgesehen ist ein Rundmail an die Mitglieder, so die Aargau Geschäftsstellenleiterin Merice Rüfenacht gegenüber Horizonte. In diesem wird zwar auf die Position des Schweizerischen Katholischen Frauenbundes hingewiesen, in erster Linie wolle man aber die Frauen einfach zum Abstimmen auffordern, so Merice Rüfenacht.

«Landeskirchen sind öffentliche Player geworden»

Auf die unterschiedlich pointierte Haltung landeskirchlicher Vertretungen und kantonaler Freiwilligenorganisationen – insbesondere auch die Zurückhaltung im Aargau – angesprochen, meint Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki: «So ist nun einmal das föderalistische System. Mit diesen Unterschieden muss man leben. Sie gehören zu uns.» Die unterschiedlich stark ausgeprägten Haltungen deuteten womöglich aber auch auf Spannungen innerhalb der Führungsgremien hin, denn innerhalb der Kirche bilde sich jeweils das ganze gesellschaftliche Spektrum von rechts bis links ab. Gerade in ländlichen Kantonen wie dem Aargau geniesse die SVP viel Rückhalt, was auch Auswirkungen auf die Sozialgestalt der Kirche habe.

Dass sich immer öfter die Frage stellt, welche Position die Landeskirchen zu politischen Abstimmungen einnehmen, zeige aber, dassp in der Schweiz die staatskirchenrechtlichen Körperschaften immer mehr zu öffentlichen Playern geworden sind. Die Zurückhaltung bei Abstimmungsempfehlungen deute laut Thomas Wallimann-Sasaki möglicherweise auch darauf hin, dass sich die Führungsgremien einzelner Landeskirchen noch zu wenig mit dieser neuen Rolle auseinandergesetzt haben.

 

 

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