29.07.2019

Arbeiten, Wohnen, Zweifeln, Glauben – Teil 3

Von Marie-Christine Andres Schürch

 

  • Zwei Menschen, ein Thema: Die Horizonte Sommerserie 2019 bringt Menschen unterschiedlicher Standpunkte ins Gespräch.
  • Im dritten Teil der Horizonte-Sommerserie begegnen sich Mirija Weber aus Zug und Philipp Zurbriggen aus Zeihen.
  • Sie ist aus der katholischen Kirche ausgetreten, er hat für die Tochter den Wiedereintritt gewagt.

 

Wäre es nach der streng katholischen Mutter gegangen, hätte Philipp Zurbriggen oder einer seiner drei Brüder Pfarrer werden sollen. Doch nachdem Philipp Zurbriggen im Alter von 25 Jahren aus dem Wallis weggezogen war, verlor er die Verbindung zur Kirche. «Vor lauter Arbeit», wie er sagt, konnte er weder in einem Verein mitmachen noch Gottesdienste besuchen. So fand er am neuen Wohnort den Anschluss an die Gemeinschaft nicht. «Wenn ich in die Kirche gehe und niemanden kenne, bringt mir das nichts», befand er und trat als junger Erwachsener aus der Kirche aus.

Gemeinschaftsgefühl

Das Gemeinschaftsgefühl in der Pfarrei, welches Philipp Zurbriggen ausserhalb des Wallis fehlte, hatte sich bei Mirija Weber gar nie eingestellt. Sie wuchs zwar ebenfalls katholisch geprägt in der Stadt Zug auf, besuchte den Religionsunterricht, feierte Erstkommunion und Firmung. «Hinterfragt habe ich das als Kind nicht, es gehörte einfach dazu», sagt sie. «Aber ich erfuhr dabei nie ein Gemeinschaftsgefühl.» Zu dogmatisch sei die religiöse Bildung gewesen. «Mein Glaube entsprang keinem inneren Bedürfnis – er wurde mir anerzogen.»

Zweifel und schlechtes Gewissen

Während Philipp Zurbriggen als Sohn einer streng katholischen Mutter und ehemaliger Ministrant kurzerhand beschloss, auszutreten, machte sich Mirija Weber diesen Entscheid nicht leicht. «Erste Zweifel kamen mir im Gymnasium. Ich hatte Religion als Fach abgewählt und deswegen sogar ein schlechtes Gewissen.» Danach kam eine Phase, in der sie sich nicht sonderlich mit der katholischen Kirche und religiösen Fragen beschäftigte. Doch in der Familie wurde immer wieder über die Kirche diskutiert. Ihr Onkel dachte zeitweise laut über einen Austritt nach, ist aber bis heute Mitglied. Er schätze die kulturellen Errungenschaften der katholischen Kirche. Ebenso sei ihm ein würdiges Begräbnis wichtig. Überhaupt stellt Mirija Weber fest, dass der Gedanke an den Tod und die eigene Beerdigung ältere Menschen eher in der Kirche hält.

Die Hoffnung verloren

Als sie mit Mitte 30 im Beruf auf einen Kollegen traf, der sehr kirchenkritisch war, ergaben sich intensive Gespräche über den Sinn der katholischen Kirche. Mirija Weber erinnert sich: «Angesichts der vielen Skandale der Kirche – ihrer systematischen Missbräuche, Verharmlosungen und Vertuschungen – und mit Blick auf die historische Entwicklung der katholischen Kirche kam mir die Hoffnung abhanden, dass sich diese Institution je ändern würde. Den Rest hat mir Bischof Vitus Huonder gegeben. Seine reaktionären Ansichten und respektlosen Äusserungen gegenüber Wiederverheirateten, Frauen, die die Pille nehmen, und Homosexuellen konnte ich nicht länger hinnehmen.»

Nicht gleichgültig sein

Den Austritt empfand Mirija Weber als Erleichterung: «Ich war wieder glaubwürdig vor mir selber.» Über all die Widersprüche innerhalb der katholischen Kirche kann sie nicht hinwegsehen: «Im Minimum, finde ich, darf man nicht gleichgültig sein.»

Urmenschliches Bedürfnis

Philipp Zurbriggen haderte wegen der Skandale nie mit der Institution Kirche: «Die Missbräuche stellen für mich kein spezifisch katholisches Problem dar, denn Machtmissbrauch gibt es leider überall.» Mirija Weber hält dagegen: «Was ich der Kirche vorwerfe, ist, dass sie christliche Werte propagiert, Halt und Geborgenheit verspricht, dieses urmenschliche Bedürfnis jedoch missachtet und instrumentalisiert – noch dazu mit kriminellen Energien. Das finde ich erschütternd.»

Reaktionen

Als Mirija Webers Vater von ihrem Kirchenaustritt erfuhr, meinte er fast entschuldigend zu ihr: «Aber gell, ich bleibe trotzdem…». Philipp Zurbriggens Mutter hingegen durfte auf keinen Fall vom Austritt ihres Sohnes wissen: «Das hätte sie ein Jahr ihres Lebens gekostet», sagt er und schmunzelt. Seine Frau, die in der ehemaligen DDR geboren war, hatte ohnehin keinen Bezug zu Kirche und Glauben. Deshalb liessen sie ihre Tochter nicht taufen: «Sie wuchs ohne Religionsunterricht und ohne Bezug zur Kirche auf.»

«Ich lasse mich taufen!»

Ungefähr vor anderthalb Jahren äusserte die Elfjährige aber völlig unerwartet den Wunsch, sich taufen zu lassen. Philipp Zurbriggen erinnert sich: «Zuerst dachten wir, das sei eine vorübergehende Laune. Doch sie sagte ganz entschieden, dass sie an Gott glaube und sich taufen lasse.» Philipp Zurbriggen ahnt, dass ein weiterer Grund war, dass die Tochter ihrer Grossmutter – seiner Mutter – eine Freude machen wollte.

Volle Unterstützung

Ob der Taufwunsch wirklich reiflich überlegt sei, fragte der zuständige Diakon Andreas Wieland. Dann organisierte er den nötigen Unterricht und bereitete das Mädchen auf die Taufe vor. Heute sei der schönste Tag ihres Lebens, sagte die Grossmutter, als sich die Enkelin taufen liess. Da fällte Philipp Zurbriggen – ebenso pragmatisch, wie er vor dreissig Jahren aus der Kirche ausgetreten war – den Entscheid, wieder Kirchenmitglied zu werden. «Ich bin wegen meiner Tochter wieder eingetreten. Weil ich sie voll und ganz unterstütze, in dem, was sie tut.»

Kulturschock

Seither besucht Philipp Zurbriggen wieder den Gottesdienst, wenn die Tochter ministriert. Doch nach dreissig Jahren und ausserhalb des Wallis wieder in der Kirche dabei zu sein, war für ihn ein Kulturschock. «Im Wallis eine ganz andere Form von Katholizismus praktiziert wird. Das beginnt schon beim Kirchengebäude: Jede Walliser Kirche ist schöner als die in Zeihen», erzählt er. Doch man müsse berücksichtigen, dass im Wallis noch eine ganz andere Mentalität herrsche. Die Leute dort hielten viel enger zusammen, der Kontakt sei direkter, man kenne einander eher.

Kirche ist aussen, Glaube innen

Mit dem Glauben habe weder sein Aus- noch sein Wiedereintritt etwas zu tun, betont Philipp Zurbriggen. «Kirche und Glauben sind für mich zwei komplett verschiedene Dinge. Glauben kommt von tief innen. Das beobachte ich auch bei meiner Tochter. Sie wollte die Taufe aus ihrem Inneren.» Dass sie nicht an den Kanon einer bestimmten Religion glaube, bedeute nicht, dass sie nicht spirituell sei, bekräftigt Mirija Weber. «Ich erfahre Spiritualität ausserhalb jeglicher Religion – etwa beim Sport, in der Natur oder in der Literatur.»

Aufwiegen

In Zeihen hat Philipp Zurbriggen die Gemeinschaft in der Kirche wieder entdeckt. «Unser Diakon ist sehr aufgeschlossen. Er reisst die Leute mit und formt eine Gemeinschaft. So stimmt es für mich.» Dass in den einzelnen Kirchgemeinden viel Gutes getan wird, bestreitet Mirija Weber nicht: «Gewisse Gemeinden und Akteure sind sehr sozial und solidarisch, das stimmt!» Doch dahinter stecke ein Machtapparat, der veränderungsresistent sei. «Das Gute wiegt für mich das Schlechte nicht auf.» Deshalb zweifelt Mirija Weber auch. An der Integrität und an der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche. «Angesichts des Wertekatalogs, den die Kirche vertritt, finde ich die systemimmanente Ungleichbehandlung von Frauen, Homosexuellen und allen Andersdenkenden oder -fühlenden empörend.»

Agent des Guten

Mit weltweit 1,3 Milliarden Mitgliedern trage die Kirche nicht nur eine enorme Verantwortung, findet Mirija Weber. Sie könnte damit auch ein gewaltiger Agent des Guten sein, meint sie. «Dass die Kirche nicht so funktioniert, macht mich wütend und traurig.» Den Gläubigen in den Pfarreien wie Philipp Zurbriggen macht sie allerdings keine Vorwürfe. «Ich kritisiere insbesondere die Kurie und die Bischöfe. All jene, die den Schalter umlegen könnten und es nicht tun.» 

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