12.11.2015

Aus der Ferne studieren

Von Anne Burgmer

Seit dem Herbst 2013 bietet die Katholische Fakultät der Universität Luzern einen vollwertigen Bachelor-Studiengang Theologie an, für den man nicht im Hörsaal sitzt. Das Angebot ist bislang einzigartig im deutschsprachigen Raum und spricht die Menschen an, deren Lebensumstände einen klassischen Hochschulbesuch nur schwer- oder gar unmöglich machen.

Astrid Fischer lebt in Jakarta und studiert Theologie in Luzern. Herr Segesser studiert dort dasselbe, mit Wohnsitz in Singapur. Weitere Studierende gibt es in Nordamerika, Deutschland und der Schweiz. Der geographisch nächste Fern-Studierende wohnt in Luzern selber. «Das stärkste Argument für den Bachelor-Fernstudiengang ist die Flexibilität», erklärt Karin Nordström, zuständige Studienleiterin an der Universität Luzern, «die Studierenden sind mittlerweile meist über 30 Jahre alt, haben oft Familie oder arbeiten in einem Beruf. Sie können also nicht zu den normalen Zeiten an der Uni anwesend sein. Da ist unser Angebot perfekt. Es ermöglicht ihnen, den Lehrstoff in Eigenregie durchzuarbeiten. Zum anderen können wir mit unserem Angebot Leuten das Studium ermöglichen, die als Deutschsprachige in einem Land leben, wo es kein muttersprachliches Angebot gibt.» Karin Nordström ist selber Theologin und hat in Schweden studiert. Seit Anfang des Jahres arbeitet sie in Luzern an der Universität.

Astrid Fischer und Herr Segesser bestätigen im Skype-Gespräch die genannten Vorteile. Letzterer geniesst, dass er selber entscheiden kann, wann er den Stoff erarbeitet und die Vorlesungen «besucht», die als Podcast online stehen. Astrid Fischer ist dankbar, dass sie in Jakarta Zugriff auf ein deutschsprachiges Angebot hat: «Der Glaube und was damit zusammenhängt, lassen sich am besten in der Muttersprache ausdrücken.»

Innovativer Weg wider die Personalknappheit
Wie es zu diesem Fernstudienangebot kam, erklärt Stephan Müller, der Fakultätsmanager der Katholisch-Theologischen Fakultät. Bereits seit Juni 2010 habe man mit dem Gedanken gespielt, einen Fernstudiengang aufzubauen. «Ich kann zwei konkrete Gründe nennen. Zunächst gab es Gespräche mit Vertretern des Bistums Basel und der entsprechenden Landeskirchen. Sie fragten sich, was man unternehmen könne, um mehr Menschen für das Theologiestudium und den kirchlichen Dienst zu gewinnen. Das Ziel: Der drohenden Personalknappheit entgegenzuwirken. Gleichzeitig bestand von Seiten der Universitätsleitung der Wunsch, das Theologiestudium auf innovativen Wegen attraktiver zu gestalten», sagt Stephan Müller. Herr Segesser ist ein gutes Beispiel dafür, dass diese Überlegungen nicht aus der Luft gegriffen sind: «Als ich meinen Sohn taufen lassen wollte, war ich ehrlich gesagt erschreckt darüber, wie lange wir nach einem Priester suchen mussten. Diese persönliche Erfahrung mit dem akuten Personalmangel war einer der Gründe, warum ich mich für das Studium entschlossen habe.»

Wissensdurst und der Wunsch, sich mit Religionen auseinanderzusetzen, sind weitere Motivation. Er sei zwar katholisch erzogen worden, doch wolle er das nur en passant «Erlernte» für sich vertiefen. «Jeder hat eine Meinung zur Religion, doch kaum einer nimmt sich Zeit für eine intensive Auseinandersetzung. Das gilt für das eigene Glaubensfundament und noch mehr für andere Religionen», sagt Herr Segesser. Was er mit dem Studium später anfangen wird, lässt er offen; aufgrund seiner Tätigkeit für einen internationalen Konzern kann der Fernstudent momentan «einfach studieren».

Kirchenpraxis
Was Herrn Segesser aufgefallen ist: In der englischsprachigen Kirchgemeinde, deren Gottesdienste er besucht, zeigen die Laien stolz ihre Funktion als Kirchpfleger oder Ehrenamtler. «Sie präsentieren ihre Position mit einem Abzeichen am Revers oder einer Schärpe. Ich habe den Eindruck, in Asien sieht man dieses Amt als Ehre, während wir es in der Schweiz aus der Tradition des Milizsystems heraus als Auftrag verstehen», erklärt Herr Segesser. Von der Sprache abgesehen, ist das «katholisch-sein» in Singapur wenig aufsehenerregend. Der Stadtstaat mit seinen rund fünf Millionen Einwohnern gewährleistet Religionsfreiheit. Es gibt viele chinesische Christen, christliche Gastarbeiter von den Philippinen und zahlreiche Expats: US-Amerikaner, Briten, Australier und Europäer.

Das ist in Jakarta bei Astrid Fischer anders. «Ich lebe als Christin in einem nicht-christlichen Land. Christliche Traditionen bekommen einen neuen Stellenwert, einfach weil ich sie nicht mehr selbstverständlich leben kann. Ostereierfarbe oder Schoko-Nikoläuse suche ich hier vergeblich», sagt Astrid Fischer und nennt die Palmzweige zum Palmsonntag oder das Martinsfest als weitere Beispiele. Es brauche vor diesem Hintergrund mehr Energie, den Glauben zu leben oder die katholischen Rituale an ihre drei Kinder weiterzugeben. Astrid Fischer ist deswegen froh, dass es eine deutschsprachige Gemeinde gibt, die im Wohnhaus des Priesters regelmässig Gottesdienst feiert. Interesse, so sagt sie, sei der hauptsächliche Grund für die Aufnahme des Theologiestudiums gewesen. An einem ihrer früheren Wohnorte, in Brüssel, war sie im Pfarrgemeinderat, schrieb auch für die Kirchgemeindezeitung; ihr Erststudium war Maschinenbau. Das Theologiestudium begann sie in der Überzeugung, dass das schon geht – studieren mehr oder weniger für sich alleine. «Doch lebe und lerne: Bei den Geisteswissenschaftlern ist das anders. Da geht es viel um Austausch und Diskussion. Dank der Onlineplattform und der Konferenzschaltungen weiss ich aber, mit wem ich gemeinsam studiere. Man kennt sich, auch wenn man sich nur zu den Prüfungen in Luzern real begegnet», erzählt Astrid Fischer.

Studienpraxis
«Praktisch ist das Fernstudium folgendermassen geregelt», erklärt Karin Nordström, «die Vorlesungen werden aufgezeichnet, nachbearbeitet und dann auf einer eigens eingerichteten Plattform für die angemeldeten Studierenden freigeschaltet. Über diese Plattform werden auch die Seminare in Konferenzschaltungen durchgeführt. Müssen die Studierenden Beiträge liefern, nehmen sie ihre Referate auf und stellen sie ihrerseits auf die Plattform.» Anfänglich waren sowohl Dozenten als auch die Präsenzstudierenden in Luzern skeptisch. Erstere wegen der neuen und ungewohnten Arbeitsweise, letztere, weil sie Vorteile für die Fernstudierenden sahen. «Ja, die Fernstudierenden haben die Möglichkeit, eine Vorlesung zu stoppen oder ein zweites Mal anzusehen», sagt Karin Nordström. Andererseits, und das können die Fernstudierenden nicht, haben die Präsenzstudierenden im Hörsaal die Möglichkeit, direkt bei den Professoren nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Und Herr Segesser führt eine weitere Schwierigkeit an: «Am Anfang habe ich für eine einstündige Vorlesung oft drei Stunden gebraucht, weil ich angeführte Bibelstellen direkt nachgeschaut und auch anderes direkt recherchiert habe. Man findet oft kein Ende.» Auch studienbegleitende Angebote sind für die Fernstudierenden, die wirklich weit entfernt leben, keine Option. Ein tatsächlicher «Schwachpunkt», das bestätigen alle Beteiligten, ist darüber hinaus die Zeitverschiebung. Es ist eine Herausforderung, eine Konferenzschaltung auf eine Uhrzeit zu legen, die für alle sinnvoll ist.

Kontinuierlicher Anstieg der Zahlen
Mittlerweile sind Fern- und Präsenzstudium durchlässig in die jeweils andere Richtung. «Es gibt Präsenzstudierende, die sich in Absprache mit den Dozierenden für spezielle Veranstaltungen bei der Onlineplattform anmelden. Beispielsweise, wenn Pflichtveranstaltungen parallel liegen. Andersherum gibt es auch Fernstudierende aus der Schweiz, die an einem Tag an der Uni sind, ansonsten aber wegen ihres Berufs nicht öfter kommen können», erklärt Karin Nordström. 157 Studierende absolvieren aktuell das Vollstudium Theologie an der Universität am Vierwaldstätter See. 82 davon im Hörsaal; 75 aus der Ferne. Während die Zahlen der Präsenzstudierenden stagnieren, steigen die des Fernstudiengangs kontinuierlich an. Die Fernstudierenden der ersten Stunde werden in diesem Jahr ihren Bachelor abschliessen. Die anfängliche Skepsis auf allen Seiten ist nahezu abgebaut. Normalerweise schliesst an den Bachelor der Masterstudiengang an. «Über einen Ausbau auf die Masterstufe wird nachgedacht. Allerdings müssen dafür organisatorische und strukturelle Hürden überwunden werden. Es lässt sich im Moment noch nichts Genaueres dazu sagen», bemerkt Fakultätsmanager Stephan Müller. Fest steht, die Katholisch-Theologische Fakultät in Luzern hat Pionierarbeit geleistet und ist – das belegen die Zahlen – ein attraktives Angebot für diejenigen Theologie-Interessierten, die das Vollstudium auf Bachelorebene absolvieren wollen und deren Lebensumstände die volle Präsenz an der Universität nicht zulassen. Sei es in Luzern, Jakarta, Singapur oder Frick.

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