26.08.2020

Pasqualina Perrig-Chiello in Aarau
Befreit sterben: Wie geht das?

Von Andreas C. Müller

  • Die bekannte Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello brach gestern Dienstag, 25. August, in Aarau eine Lanze für das Vergeben und Vergessen.
  • Die Berner Uni-Dozentin kam auf Einladung der Aargauer Landeskirchen, die sich seit Jahren im Bereich Ausbildung Palliative Care, also für Begleitung am Lebensende engagieren.

«Verzeihen ist ein komplexer Prozess», liess Gastreferentin Pasqualina Perrig-Chiello schon gleich zu Beginn des Abends verlauten und bemühte zur Untermauerung dieser allgemein bekannten Erkenntnis neben der Psychologie auch Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Hannah Arendt wurde genauso zitiert wie Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas, Edith Piaf, Nelson Mandela oder der Dalai Lama. Das Thema des Abends: Verzeihen oder vergessen? Das Leben gut abschliessen. Aber wie?

Verschiedene Formen der Vergebung

Zum Themenabend geladen hatten die Aargauer Landeskirchen, und zwar ins «Haus der Reformierten» am Strittengässli in Aarau. Es gebe verschiedene Formen des Verzeihens und die meisten folgten niederen Beweggründen, führte die Referentin dort aus: Rachsüchtiges Verzeihen, Verzeihen unter gewissen Bedingungen, aufgrund von sozialen Erwartungen, weil es die Lebensphilosophie oder die Religion verlangen, Verzeihen um der Harmonie wegen.

Vergeben könne man erst, wenn man verschiedene Phasen durchlaufen habe. Zunächst müsse man die negativen Gefühle, die Wut und den Schmerz zulassen. Hernach gehe es darum, zu verstehen, dass man in der Opferrolle und in den damit zusammenhängenden, negativen Gefühlen nicht weiter komme. Erst dann sei der bewusste Entscheid des Vergebens möglich. Vergeben müsse aber nicht vergessen heissen. Bei den Franzosen heisse es: Pardonner oui, oublier jamais.

Frauen vergeben nicht so rasch

«Aber möglicherweise gibt es Dinge, die unverzeihbar sind», fragte Pasqualina Perrig-Chiello in die Runde. «Ja, sicher!», entgegnete ihr sogleich eine Frau aus dem Publikum. «Und wie steht es um die Unfähigkeit zur Versöhnung?», wollte die langjährige Berner Uni-Dozentin wissen. Gerade Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl würden entweder alles vergessen und vergeben oder gar nichts. Frauen hätten zudem mehr Mühe, zu vergeben. Ebenso Menschen mit einem starren Wertekorsett.

Am Lebensende käme es letztlich auf die Versöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte an, so Pasqualina Perrig-Chiello weiter – und auf Charakterstärken: emotionale, mentale, soziale.

Verbitterung macht dumm

Bei den Anwesenden kam der Abend gut an. Viele gaben an, viel Neues zum Thema erfahren zu haben. Und in der Tat konnte die Referentin mit einigen interessanten Fakten aufwarten: «Vergebung befreit auch Gedanken!» Studien hätten gezeigt, dass Verbitterung letztlich auch zu kognitiven Beeinträchtigungen führe.

Vereinzelt angegangene Anwesende bestätigten gegenüber Horizonte, dass für sie das meiste «Repetition» gewesen sei. Das Interesse an der Veranstaltung war bei vielen ein rein Privates – meist aus einem persönlichen Beweggrund. Da traf man drei Schwestern, die unlängst ihre Mutter «haben loslassen müssen». Eine andere Frau bestätigte, dass sie selbst etwas mit sich herumtrage, dass der Vergebung bedürfe. Und vielfach hiess es auch einfach: «Tolles Thema, Top-Referentin!»

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