14.09.2014

Beim Kaffee mit den alten Jungwächtern

Von Horizonte Aargau

Dass Kirchengeschichten geschrieben werden, ist eine Seltenheit geworden. Dies vor allem aufgrund des hohen finanziellen Aufwands. In Brugg wagt man den Schritt dennoch: Für 211’000 Franken sollen, gemäss der Kirchgemeindeversammlung vom 10. Juni 2014, die Historiker Astrid Baldinger, Max Baumann und Titus Meier die Vergangenheit der Diaspora-Kirchgemeinde aufarbeiten. Konkret heisst das: Archive durchstöbern und Zeitzeugen befragen. Horizonte hat Astrid Baldinger bei einem Interview mit ehemaligen Jungwächtern über die Schulter geschaut und selbst Fragen gestellt. In Habsburg trafen sich die ehemaligen Jungwächter Wilhelm Knecht, Paul Lang und das Brugger Urgestein Werner Müller.

Welche Rolle spielte die Jungwacht damals, in den 1950er Jahren?
Werner Müller (Jahrgang 1933): In den 1950er Jahren war das schon noch etwas Anderes als heute. Die Jungwacht war etwas verhältnismässig Neues bei uns in der Region, und man hatte zunächst noch keine eigenen Jugendräume. Überhaupt: Brugg, das war Diaspora, es gab kaum Katholiken hier, an vielen Orten noch keine Gottesdienste. Die Frequenz im öffentlichen Verkehr ermöglichte es den Buben nicht, zu Jungwacht-Treffs nach Brugg zu fahren. In etlichen auswärtigen Gemeinden organisierten sie sich demzufolge selbst und trafen sich  sozusagen zu Hause, zu «Vor-Ort-Jungwacht-Gruppenstunden».

Das klingt sehr improvisiert.
Paul Lang (Jahrgang 1945): Schon, und doch war alles straff organisiert und immer perfekt. Alle gaben ihr Bestes. Ich mag mich noch gut erinnern: 1961 wurde ich Gruppenführer und Werner Müller war Leiter. Die Jungs, zu denen ich auch gehörte, hatten mit ihm in einem Kellerabteil den ersten Gruppenraum eingerichtet. Für den Boden waren eigens Parkettleisten gekauft worden…
Werner Müller: Die hatten wir aus dem Abbruch…
Paul Lang: Dieser Boden war perfekt abgeschliffen, das glänzte richtig. Als Buben haben wir da die Schuhe ausgezogen… So etwas hat uns schon beeindruckt, das gab es so sonst nicht in der Region.

Trug denn die Jungwacht auch zur Vernetzung der Katholiken in der Region bei?
Paul Lang: Auf jeden Fall. Und sie schaffte Gemeinschaft, stiftete Identität und war über die sinnvolle Freizeitbeschäftigung hinaus ein wichtiger gruppendynamischer Prozess in diesem Alter.
Wilhelm Knecht (Jahrgang 1938): Du hast dich dann ja auch entsprechend ins Zeug gelegt und wurdest – wie Werner Müller – später  auch Schar- und Kreisleiter.
Paul Lang: Da habe ich fast hauptamtlich für die Jungwacht gearbeitet. Ich war jeden Abend irgendwo am Planen und Organisieren. Und am Wochenende war dann sowieso etwas los.

Wie wurde man damals in die Jungwacht aufgenommen?
Werner Müller: Ich bin 1944 aufgenommen worden und habe ein Jahr später mein erstes Lager erlebt. Auch meine drei Brüder waren in der Jungwacht. Vor der Aufnahme waren wir erst ein Jahr lang Kandidaten auf Probe. Dann, nach der Erstkommunion, konnten wir das Treue-Versprechen ablegen und wurden aufgenommen.

Und die Führung?
Paul Lang: Früher mussten die Anwärter auf einen Leiterposten einen Kurs besuchen und Prüfungen ablegen. Diese Ausbildungskurse wurden sehr professionell organisiert, man hatte ja hernach auch Verantwortung. Gruppenleiter war man für etwa zehn Buben, eine Schar umfasste dann 100 Leute.

Herr Knecht, warum treffen wir uns gerade bei Ihnen zu Hause in Habsburg?
Wilhelm Knecht (Jahrgang 1938): Das hat eine besondere Bewandtnis und einen konkreten Bezug zur Jungwacht von damals. Genau hier habe ich 1969 für 600 Buben ein Lager mitorganisiert. Im Scherz habe ich hernach gegenüber dem Gemeindeammann gemeint, das sei ein guter Platz, da könnte man doch auch wohnen. Ein paar Jahre später erhielt ich einen Anruf aus Habsburg. Es hiess, angrenzend zu unserem vormaligen Jungwacht-Zeltgelände stünde nun Bauland zum Verkauf.

Die haben sich an Sie erinnert und Sie quasi als Zuzüger eingeladen?
Wilhelm Knecht: Ja, in der Tat. Aber vielleicht nicht ganz uneigennützig. Ich sollte dem Gemeinderat beitreten und meine Frau folgte dem Wunsch vom damaligen Pfarrer Eugen Vogel, hier in Habsburg den katholischen Religionsunterricht zu erteilen. So lief das halt. Damals gab es hier in der Region noch wenige Katholiken, das hier war Diaspora.
Werner Müller: Bis anfangs der 50er Jahre gab es ja auch kein Fernsehen und auch nicht all diese Freizeit-Angebote wie heute. Auch Ferien konnten sich die Menschen nach dem Krieg kaum leisten. Das, was wir in der Jungwacht angeboten haben, war ein echtes Bedürfnis. So konnten wir die Jungen gut packen…

Es scheint, als hätte man von Ihnen als Jungwachtleiter einen guten Eindruck bekommen.
Wilhelm Knecht: In der Jungwacht haben wir viel fürs Leben gelernt. Viele Jungwächter haben hernach vielerorts, auch im Militär und in der Wirtschaft Karriere gemacht.
Paul Lang: Einer von uns wurde Präsident des Aargauischen Obergerichts, einer  wurde Schweizer Botschafter, einer Chef der Berufsberatung des Kantons Zürich, zwei wurden Divisionäre. Jetzt treffen wir uns noch jedes Jahr im «KdE», im Kreis der Ehemaligen.
Werner Müller: Und wir hatten in der Jungwacht immer den Plausch… Ich weiss noch, damals, Mitte der Fünfziger-Jahre… Ich hatte als Leiter vor der Abreise ins Ferienlager Appell gemacht und hernach im Zug, da zählte ich nach…. Einmal, zweimal… Immer war da einer zu viel. Aus einer armen Familie war jemand einfach mitgekommen. Er hätte unseren Pfarrer gefragt, und dieser hätte gesagt, er solle nur mitkommen, so der Bub. 

Und dann?
Werner Müller: Ja, den haben wir dann mitgenommen… Und den «Kondi» haben wir auch noch «pschisse» (lacht). Ich hatte ja nur ein Billet für die angemeldeten Kinder. Aber Sie können sich ja vorstellen, dass ein Kondukteur kaum eine Gruppe von über 100 Kindern durchzählen kann… Nun, wir haben dem Bub dann nicht nur das Bahnbillet sondern auch den ganzen Ferienaufenthalt bezahlt.

Andreas C. Müller

                                                                                                                                                                                         

 

 

 

 

 

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