02.12.2019

Bewusst machen, was im Leben geglückt ist

Von Andreas C. Müller

  • Untersuchungen haben ergeben: Schauen Menschen am Lebensende zurück, können sie daraus Kraft schöpfen. Speziell ausgebildete Fachleute, darunter auch Seelsorgende, erstellen für Menschen sogenannte «Lebensspiegel»
  • Horizonte traf Daniela Mustone, die sich zusammen mit 11 anderen Fachpersonen aus dem Aargau für diese Aufgabe hat ausbilden lassen und das Angebot im Aargau bekannt machen möchte.

 

Frau Mustone, was versteht man unter dem «Lebensspiegel», dem neuen Angebot für Menschen am Lebensende?
Daniela Mustone: Der Ansatz kommt aus Kanada und geht auf Harvey Max Chochinow zurück. Dieser hat herausgefunden, dass Menschen am Lebensende oft mit dem Gefühl kämpfen, die eigene Würde zu empfinden. Zudem glauben sie, anderen zur Last zu fallen. Es kann der Wunsch entstehen, dass es besser wäre, sie wären nicht mehr da.

Aber das beschreibt ja noch nicht den Therapie-Ansatz.
Richtig. Harvey Max Chochinow hat herausgefunden, dass sich die Wertschätzung des eigenen Lebens steigert, wenn es gelingt, bewusst zu machen, was einem Menschen in seinem Leben geglückt ist.

Und wie funktioniert nun der «Lebensspiegel»?
«Lebenspiegel» ist ein Synonym für die  von Harvey Max Chochinow verwendete «Würdezentrierte Therapie». Verwendet wird der Begriff «Lebensspiegel» von der Andreas Weber-Stiftung in Zürich. Meines Erachtens veranschaulicht die Bezeichnung «Lebensspiegel» auch klarer, worum es geht: Man macht mit einer Person ein Interview und fragt nach Dingen, die rückblickend wichtig waren. Dabei geht es auch um soziale Rollen, um Werte und besondere Erlebnisse, die weitergegeben werden sollen. Das Ergebnis aus einem solchen Gespräch wird hernach der interviewten Person vorgelesen und in schriftlicher Form ausgehändigt.

Und das hat den erwähnten Effekt?
Für zwölf Personen aus dem Aargau hat die Zürcher Andreas Weber-Stiftung im Kanton einen Ausbildungskurs «Lebensspiegel» durchgeführt. Übungshalber haben wir dann auch gegenseitige «Lebensspiegel» erstellt und erfahren: Das ist schon eine spezielle, berührende Situation, wenn dir jemand aus deinem Leben vorliest. Auch Angehörigen kann ein solcher «Lebensspiegel« helfen.

Wie denn?
Der «Lebensspiegel» wurde auch schon an einer Abdankung vorgelesen. Oder wenn Sie sich vorstellen, dass beispielsweise ein Familienvater sterben muss, dessen Kinder noch sehr klein sind: Mit Hilfe des «Lebensspiegels» kann er etwas ganz Persönliches hinterlassen  – Emotionales; was er beispielsweise gefühlt hat, wenn er seine Kinder im Arm gehalten hat. So etwas kann für diese später ein Trost sein, gerade wenn sie aus dieser Zeit nur schwache Erinnerungen haben.

Kann es bei solch einer Arbeit nicht auch heikle Situationen geben – gerade wenn Verletzungen hochkommen?
Durchaus. Möglicherweise sind da noch «offene Rechnungen», oder es äussert sich Verbitterung.

Wie geht der «Lebensspiegel» damit um?
Wir nehmen solche Sachen auf, fragen aber durchaus: «Wollen Sie das so lassen?» Der «Lebensspiegel» soll auch helfen können, schmerzliche Dinge loszulassen und zu vergeben.

Zwölf Personen aus dem Aargau haben sich zum Thema «Lebensspiegel» ausbilden lassen. Waren darunter auch Seelsorgende?
Ja, insgesamt vier Personen aus der Spitalseelsorge – zusammen mit Fachpersonen aus den Bereichen Psychologie, Psycho-Onkologie und Pflege.

Der «Lebensspiegel» als Angebot ist ja noch kaum bekannt: Wie wollen Sie das ändern?
Indem wir ihn breiter bekannt machen und weitere Fachpersonen ausbilden. Unser Ziel ist es, im Jahr 2021 hier im Aargau einen eigenen Kurs zum Thema «Lebensspiegel» anzubieten. Bis dahin hoffen wir auch, dass das Angebot einer breiteren Fachöffentlichkeit bekannt ist – namentlich denken wir an Ärzte, Sozialberater, Seelsorgende, Psychologen, Pflegefachpersonen, aber auch an Stiftungen und Vereine wie die Lungen- und Krebsliga sowie wie Alters- und Pflegeheime.

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