23.11.2020

Volg-Filialleiter warnt vor Alkoholmissbrauch
Corona führt zu Einsamkeit – und höherem Alkoholkonsum

Von Christian Breitschmid

  • Covid-19 ist eine Erkrankung, deren Spätfolgen noch unbekannt sind. Vorerst geht es darum, die weitere Verbreitung des Coronavirus’ nach Möglichkeit einzudämmen.
  • Die Vorsichtsmassnahmen zwingen dazu, zwischenmenschliche Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Das verstärkt vor allem bei älteren und kranken Personen das Gefühl des Alleinseins.
  • Lichtmangel, Nebeltage, Advents- und Weihnachtsdepressionen drohen in dieser Zeit zusätzlich. Der Griff zum «Seelentröster» Alkohol ist in dieser Situation für viele Menschen die scheinbar einzige Möglichkeit.

Die Kundin kam jede Woche, immer am Donnerstagmorgen. Sie kaufte eine Flasche Kirsch und liess sie sich vom Personal als Geschenk einpacken. Einmal waren so viele Kunden im Volgladen, dass keine der Angestellten Zeit hatte, die Kirschflasche in Geschenkpapier zu hüllen. «Na, dann bringe ich sie halt so zu meinen Freunden. Sie werden sich sicher auch ohne schöne Verpackung über mein Geschenk freuen», rief die Kundin laut, packte ihre Flasche und verliess den Laden. Josef Brunner, Ladenleiter im Volg Merenschwand, erinnert sich noch gut an diese Kundin: «Uns allen war klar, dass sie wohl kaum jede Woche bei Freunden eingeladen war, denen sie eine Flasche Kirsch als Geschenk mitbrachte. Aber ich darf sicher nicht einen Kunden auf seine Einkäufe oder Gewohnheiten ansprechen, geschweige denn darüber urteilen. Es fällt einem einfach auf und man macht sich halt im Stillen seine Gedanken darüber.»

Alkoholverkäufe steigen markant

Seit dem sogenannten Lockdown, der im Frühling dieses Jahres fast das gesamte Sozialleben in der Schweiz auf Eis gelegt hat, musste sich Josef Brunner aber noch viel mehr Gedanken machen, denn die Verkaufszahlen seiner Abteilung Weine und Spirituosen stiegen markant an. «Das lag sicher daran, dass die Restaurants und Gartenbeizen geschlossen waren. So verlagerte sich der Konsum von Alkohol vom öffentlichen in den privaten Bereich. Das Bier, den Most oder die Flasche Wein, die man in der Gaststätte getrunken hätte, die trank man jetzt halt zu Hause im Garten oder auf der Terrasse.» Dazu kam, dass all die Frühlings- und Sommerfeste, alle Grossanlässe, bei denen man in geselliger Runde den ein oder anderen Trunk genossen hätte, abgesagt werden mussten. «Auch dieser Konsum verlagerte sich vom Anlass in die heimische Stube», konstatiert der Volgfilialleiter.

In dieser Privatisierung des Alkoholkonsums sieht Josef Brunner eine Gefahr: «Es fehlt dabei die soziale Kontrolle. Wenn man mit Freunden oder im Verein an ein Fest geht, dann ist da immer einer, der einen warnt oder bremst, wenn man es mit dem Alkohol übertreibt. Auch in einem Wohnquartier kann diese soziale Kontrolle in gewissem Masse noch funktionieren. Aber es wird immer weniger, je mehr sich die Leute zurückziehen. Früher hielt man sich doch eher noch zurück, weil es immer hiess: ‹Was sollen die Leute von dir denken…?› Heute kann man darüber erschrecken, wie wenig die Leute überhaupt aneinander denken.»

«Es gibt zwei Arten von Kunden»

Schon früher gab es Ereignisse, die die Menschen so sehr quälten, dass sich diese Seelennot in den Alkoholverkäufen seines Ladens manifestierte. Josef Brunner erinnert sich etwa an die Flugzeugkatastrophen 1998 in Halifax und 2002 bei Überlingen oder an das Attentat im Zuger Kantonsrat 2001: «Damals merkte man den Leuten deutlich an, wie bedrückt sie waren. Jetzt spürt man diese Bedrückung auch wieder. Wer eine Familie hat, kann das vielleicht noch besser verarbeiten. Aber wenn man ganz alleine ist…»

Der Filialleiter des Volgladens in Merenschwand kennt seine Kunden und er würde das Vertrauen, das sie in ihn und seine Mitarbeiter haben, niemals verletzen. Darum erklärt er ganz allgemein: «Es gibt zwei Arten von Kunden, die Alkohol bei uns kaufen. Die einen sind Geniesser, die sich oder ihren Gästen etwas Gutes gönnen wollen. Die kommen vorbei, sagen, was sie gernhaben, lassen sich von uns auch beraten und kaufen dann, was ihnen gefällt. Die anderen erscheinen eher zu den Randstunden. Sie kommen rein und kaufen möglichst viel Alkohol für wenig Geld.» Das Elend dieser Menschen berührt Josef Brunner, auch wenn er sich bemüht, es an sich abprallen zu lassen: «Ich kann nicht der Seelendoktor meiner Kunden sein. Dafür gibt es Spezialisten.»

«Unsere Tür muss offen bleiben»

Zu den Spezialisten für menschliche Seelennöte gehören ganz sicher die Seelsorger in den Pfarreien. Merenschwand ist zwar momentan noch auf der Suche nach einer zuständigen Person für die Pfarreiseelsorge, aber dennoch muss im Pastoralraum Muri AG und Umgebung niemand auf seelischen Beistand verzichten. Neben Pastoralraumpfarrer Stephan Stadler, kümmern sich Kaplan Julius Dsouza, Diakon Francesco Marra sowie die beiden Pfarreiseelsorger Nicole Macchia und Stefan Heinzmann um die Menschen im oberen Freiamt. Auch wenn unter den aktuellen Bestimmungen nicht mehr als 50 Menschen an einem Gottesdienst teilnehmen dürfen, so sind die Türen der Pfarrhäuser und somit der Weg zu einem persönlichen Gespräch für Ratsuchende jederzeit offen (siehe Kasten unten).

Anlaufstellen bei Alkoholproblemen

Wenn Sie jemanden kennen, der im Umgang mit Alkohol Probleme hat oder wenn Sie selber Rat suchen, dann können Sie sich jederzeit vertrauensvoll an die Seelsorgerin oder den Seelsorger Ihrer Pfarrei wenden. Im gemeinsamen Gespräch werden Sie herausfinden, welche Schritte zu unternehmen sind. Sie finden die Namen und Telefonnummern auf der Pastoralraum- oder Pfarreiseite Ihrer Wohngemeinde hier bei Horizonte online oder in Ihrer Printausgabe.

Hilfe und Beratung bietet im Kanton Aargau auch die Suchtberatung ags. Niederschwellige Anlaufstellen sind auch die Kirchlichen Regionalen Sozialdienste KRSD, deren Berater im Auftrag von Landeskirche und Caritas zur Verfügung stehen. Auch das Sorgentelefon ist immer erreichbar für ein helfendes und unterstützendes, anonymes Gespräch. Das Sorgentelefon für Jugendliche unter der Nummer 147 . Das Sorgentelefon Nummer 143 steht Männern und Frauen jeden Alters zur Verfügung. 

«Das Thema Alkoholmissbrauch kommt bei uns jedes Jahr wieder, so ab November/Dezember», bestätigt Diakon Francesco Marra. «Dieses Jahr hat es aber schon im Frühling begonnen, als die Coronapandemie zum Lockdown und zu all den anderen Schutzmassnahmen führte.» Das grosse Problem im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum sei die Anonymität: «Das betrifft ja nicht nur Merenschwand. Die Leute fahren anonym in ein anderes Dorf, um dort, unerkannt, ihren Alkohol zu kaufen. Sie haben Angst vor der Stigmatisierung.» Wegen dieser Angst suchten viele Alkoholabhängige auch nicht den Kontakt mit einem Seelsorger. «Wir müssen uns schon klar sein», sagt Francesco Marra, «dass wir Seelsorger das Problem Alkoholsucht nicht lösen können. Aber wir können den Gang zu einer Fachstelle empfehlen. Und: unsere Tür muss immer offenbleiben, denn wenn die Menschen den Kontakt verlieren, dann wird’s gefährlich.»

«Problem ist grösser als unsere Region»

Im weiteren Gespräch macht Diakon Marra klar, dass neben dem Alkoholmissbrauch noch ein weiteres grosses Problem aus der Coronakrise erwächst: die Armut. In vielen Pfarreien erwarte man aufgrund von Stellenverlusten, Kurzarbeit und Umsatzeinbussen bei den Kirchenmitgliedern einen spürbaren Rückgang der Steuereinnahmen im kommenden Jahr. «Unsere Sorge ist es, dass man dann genau dort spart, wo die Gelder am dringendsten gebraucht werden, bei der Caritas, bei der ganzen Diakonie. Dabei muss man gerade die jetzt unterstützen. Wir müssen uns bewusst sein: Dieses Problem ist grösser als unsere Region.»

Die Situation nach einem Dreivierteljahr Coronabedrohung zeige sich akut in der Einsamkeit, der Unsicherheit, der Traurigkeit und dem Gefühl des Verlorenseins vieler Menschen. Der erhöhte Alkoholkonsum ist  nach Ansicht Francesco Marras die Konsequenz aus dieser Situation. Der Verlust der Arbeitsstelle, Kurzarbeit oder auch nur schon die Angst davor, verschlimmerten die depressive Stimmung zusätzlich. Darum ist das Pastoralraumteam von Muri und Umgebung bereits dabei, eine Strategie umzusetzen, die den Folgen von Arbeitslosigkeit und Armut, Trauer und Einsamkeit entgegenwirkt. «Das fängt in der Adventszeit schon an», verrät Francesco Marra. «Wir intensivieren die persönliche Kontaktpflege zu unseren Pfarreimitgliedern, etwa indem wir die heilige Kommunion nach Hause bringen oder mit Aktionen wie den Adventsgeschichten, die wir in der Kirche von Bünzen an drei Nachmittagen erzählen.» 

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Abonnieren Sie unseren Newsletter. Er erscheint alternierend zur Printausgabe alle zwei Wochen – immer mit den aktuellsten Horizonte-Geschichten und oftmals spannenden Verlosungen.