07.07.2014

«Das Altwerden fühlt sich anders an, wenn man selber drin ist»

Von Horizonte Aargau

Die 66-jährige Karin Wilkening gilt als Pionierin der deutschen Hospizbewegung. Über den jüngsten Entscheid der Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit, sich verstärkt für den Alterssuizid einzusetzen, ist die in Einsiedeln lebende Psychologin «entsetzt». Im Interview mit der Presseagentur Kipa sagt die ehemalige Professorin der Ostfalia-Hochschule Braunschweig-Wolfenbüttel, warum sie dies für ein «unglaubliches Signal» hält. Statt alten Menschen die Lebensfreude auszureden, sollte man sie vielmehr fragen, wie sie es schaffen, auch mit 80 oder 90 dem Leben etwas abzugewinnen, findet die Trägerin des deutschen Bundesverdienstkreuzes.

Die Suizidhilfeorganisation Exit hat Ende Mai entschieden, sich verstärkt für den Alterssuizid einzusetzen. Was hat der Entscheid bei Ihnen ausgelöst?

Ich war entsetzt. Weil schon Multimorbidität (gleichzeitiges Bestehen mehrerer Krankheiten bei einer einzelnen Person, Anm. d. Red.) ausreicht und weil nicht gesagt wird, ab wann das Alter anfängt, wo man einen Alterssuizid nachvollziehbar findet. Multimorbid ist im Alter jeder. Wenn Sie es nicht sind, sind Sie nicht anständig diagnostiziert. Die Botschaft von Exit ist doch: Wenn einer alt ist, kann man es verstehen, dass er nicht mehr leben will. Hat er dann noch mehrere Erkrankungen, kann man es erst recht verstehen. Dieses Signal ist schon unglaublich.

Warum?
Man weiss genau, dass die subjektive Gesundheit alter Menschen über 65 grösser ist als diejenige von 40-Jährigen zum Beispiel. Sie fühlen sich gesünder, obwohl sie objektiv mehr Erkrankungen haben. Warum? Weil sie mit Einschränkungen leben gelernt haben. Diese beeinträchtigen nicht unbedingt ihre Lebensqualität. Man nennt dies das sogenannte Zufriedenheitsparadox des Alters: Alte Menschen sind zufriedener als Jüngere, obschon es ihnen von den objektiven Gegebenheiten her eigentlich schlechter gehen müsste. Da ist dann immer das grosse Staunen der jungen Gerontologen: Woher kommt das? Aber wenn man um dieses Zufriedenheitsparadox weiss, dann muss man doch nicht anfangen, alten Menschen einzureden, dass es eigentlich ein Wunder ist, dass sie zufrieden sind. Der Exit-Entscheid geht aber genau in die Richtung, finde ich.

Müssen sich alte Menschen, die trotz Beschwerden gerne leben, heutzutage rechtfertigen?
Ich habe oft erlebt, wie man auf Schwerstkranke zugeht. Da sagt etwa ein Mann zu seiner kranken Frau: «Also, dass du noch Freude am Leben hast, das kann ich wirklich nicht verstehen.» Schwerstkranke in Hospizen bekommen immer wieder zu hören: «Mich wundert, dass du mit diesen Einschränkungen noch Lebensmut hast.» Was macht der Betreffende mit so einer Botschaft? Da kommt man in einen Rechtfertigungszwang. Ich wünsche mir, dass das Alter positiver gesehen wird. Wir sollten alte Menschen fragen, wie es ihnen gelingt, 80 oder 90 Jahre alt zu werden und dem Leben noch immer etwas abzugewinnen. Und hinhören. Das Altwerden fühlt sich anders an, wenn man selber drin ist. Ich kann das von mir selber sagen. Kürzlich hatte ich eine Stimmbandentzündung und konnte zwei Wochen lang nicht mehr sprechen. Irgendwie dachte ich: «Au, wie ist das jetzt, wenn du auf einmal nicht mehr reden könntest? Wer bist du dann noch für die anderen?» Das war eine ganz intensive Erfahrung.

In der Schweiz gehören rund 72.000 Menschen dem Verein Exit an. Tendenz steigend. Grund ist offenbar oft Angst vor einer künftigen Abhängigkeit im Alter. Woher kommt diese Angst?
Die Medien schreiben immer wieder über bestimmte Aspekte des Alters, die Angst erzeugen: Etwa die zunehmende Hochaltrigkeit, gepaart mit der Zunahme des Prozentsatzes der Menschen, die dement sind, körperlich gebrechlich und pflegebedürftig. Die Wahrscheinlichkeit, dass heute jemand ein hohes Alter erreicht, ist recht gross. Das muss man als Realität einfach sehen. Dabei geht jedoch unter, dass über die Hälfte der über 85-Jährigen nicht dement und pflegebedürftig sein wird. Hinzu kommen gewisse Rahmenbedingungen: So sinkt etwa der Anteil der potentiellen Familienpflegekräfte, also Kinder und Geschwister. Diese wohnen zudem weit verstreut. Dann gibt es Diskussionen über Renten, leere Kassen, steigende Preise der Betreuung von Pflegebedürftigen. So entsteht ein Szenario, das Angst macht. 

Aber spielt da nicht auch das gesellschaftliche Ideal, ein Mensch habe immer autonom zu sein, eine Rolle?
Bestimmt haben in unserer heutigen Gesellschaft Freiheit und Unabhängigkeit einen grösseren Wert als früher. Dafür stehen etwa die hohe Scheidungsrate, das Phänomen der Lebensabschnittspartner. Das bedeutet, dass die Menschen Freiheit hochschätzen. Andererseits gibt es auch eine Art Unabhängigkeitsillusion.

Das heisst? 
Wenn ich mir jüngere Menschen angucke, die das Gefühl haben, sie seien völlig frei, frage ich mich immer: Wovon sind sie frei? Vielleicht sind sie in gewisser Weise frei von Verpflichtungen, weil sie keinen festen Partner haben, aber sie sind nicht befreit von anderweitigem Beziehungsstress. Auch sind sie nicht frei von Bedürfnissen, die durch Werbung geweckt werden. Sie werden manipuliert. Das ist eine interessante Entwicklung, dass wir diese Art von Abhängigkeit gar nicht so sehen. Wir sehen nur formale Abhängigkeiten: Ich habe jemandem ein Eheversprechen gegeben, ich bin in einer festen Anstellung. Für mich ist das Alter ein Zustand, in dem man auch weniger von seinen Bedürfnissen getrieben ist. Wer im Alter genügsam ist und nicht mehr jedem Modetrend hinterher rennen muss, hat ein Stück späte Freiheit gewonnen. Diese Art von Freiheit wird meist nicht gesehen.

Vielleicht befürchten manche Menschen auch, im Alters- oder Pflegeheim schlecht betreut zu werden. Wie sieht es da aus?
In den letzten 30 Jahren hat sich die Realität in den Altersheimen sehr verbessert. Zuvor gab es zum Beispiel keine Betreuungsprogramme für Menschen mit Demenz. Sterbebegleitung, palliative Versorgung, geriatrische Diagnostik, Gerontopsychiatrie – alle diese Bereichen waren lange nicht so gut entwickelt wie heute. Aber ich habe gemerkt, dass die meisten Menschen vor lauter Nachdenken darüber, was man alles tun kann, um fit zu bleiben, vergessen, dass – egal wie fit sie sind – die letzte Lebensaufgabe darin besteht, sich mit der eigenen Endlichkeit zu konfrontieren. Für mich ist die grösste Leistung des Alters: Im Angesicht des Todes nicht wahnsinnig zu werden oder sich das Leben zu nehmen, sondern dem entgegen zu sehen und zu sagen, diese Aufgabe wird auf mich zukommen und ich werde sie irgendwie bewältigen. 

Exit ermöglicht alten Menschen, dies zu überspringen, und beruft sich dabei auf ein Selbstbestimmungsrecht am Lebensende.
Die Organisation schafft damit ein Altersbild, das auch das Alter und das Sterben zu einem Teil des Lebens macht, für den ich mich entscheiden muss. Ich bin eine relativ überzeugte Christin. Für mich gilt deshalb: Ich habe über den Anfang meines Lebens nicht bestimmt und möchte auch nicht über dessen Ende bestimmen. Meine Zeit steht in Gottes Händen. Es beruhigt mich, dass ich nicht darüber entscheiden muss. Ich habe viele Menschen im Sterben begleitet und so unterschiedliche Szenarien des Sterbens erlebt, dass ich einfach denke: Man betrügt Menschen darum, wenn man solche Entwicklungen abkürzt. 

Offenbar haben aber immer mehr Menschen Angst vor dem natürlichen Tod, wollen das schnell über die Bühne bringen. Warum?
Wilkening: Es gibt wenig positive Berichte übers Sterben. Da wir immer seltener dabei sind, wissen wir immer weniger, was da alles geschehen kann. Die Menschen müssten sich auf das Dabeisein einlassen. In der Hospizbewegung haben wir immer versucht, die Angst davor abzubauen. Ich selber bin froh, dass ich den Augenblick des bewussten Sterbens meiner Mutter miterlebt habe. Das gab mir das Gefühl: Auch bei mir könnte es so sein. Allerdings möchte ich das Sterben nicht schönreden. Sterben ist nicht einfach, und es geht heutzutage vielleicht ohne körperliche Schmerzen, aber nie ohne seelisches Leid. Sterben bedeutet Abschiednehmen von ganz vielem. Aber bei allen Menschen, deren Sterben ich miterlebt habe, war auch deutlich: Es kommt etwas anderes. Man sieht den Menschen an, dass sie wo anders hingehen und dass dieses Hinübergehen für sie eine ganz grosse Aufgabe ist. Jeder sollte da die Zeit haben, seinen eigenen Weg finden zu können.   kipa

 

 

Karin Wilkening
Karin Wilkening ist Gastforscherin am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich und lebt in Einsiedeln SZ. Von 1998 bis 2012 war die aus Deutschland stammende Forscherin Lehrbeauftragte am Psychologischen Institut der Universität Zürich für «Gerontopsychologie» und von 1994 bis 2012 Professorin an der Ostfalia-Hochschule Braunschweig-Wolfenbüttel. In Deutschland engagierte sich Wilkening ehrenamtlich beim Aufbau der Hospizarbeit. 2004 wurde die Palliative-Care-Pionierin mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für ihren Einsatz für Demenzkranke und im Bereich der Hospizarbeit ausgezeichnet. 

Themen Nachrichten
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Abonnieren Sie unseren Newsletter. Er erscheint alternierend zur Printausgabe alle zwei Wochen – immer mit den aktuellsten Horizonte-Geschichten und oftmals spannenden Verlosungen.