10.02.2016

Der fast verschlafene Angriff auf die Menschenwürde

Von Andreas C. Müller

Mit der Durchsetzungsinitiative, über die das Schweizer Stimmvolk am 28. Februar abstimmt, kämpft die SVP für die konsequente Ausweisung krimineller Ausländer. «Notwendig», meint der Aargauer-Parteisekretär Pascal Furer. «Zutiefst unchristlich und menschenverachtend», warnt der renommierte katholische Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki.

 Am 28. Februar 2016 werden viele Katholiken die Durchsetzungsinitiative annehmen, auch wenn diese «keine Barmherzigkeit und kein Verständnis für die Vielfalt von Situationen» gelten lässt, wie Thomas Wallimann-Sasaki, Leiter des Sozialinstituts der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung der Schweiz und Präsident der bischöflichen Kommission Justitia et Pax, also der politischen Stimme der Schweizer Bischöfe, erklärt. Den Grund glaubt der Sozialethiker in dem Umstand zu erkennen, dass viele Katholiken verunsichert seien. Gerade jene, die der Kirche noch nahe stünden. Und in der Tat: «Ich bin fremd geworden in meinem Land, fühle mich unwohl und in grossen Teilen meines Lebens nicht mehr wie früher geborgen und zuhause», heisst es in einem Leserbrief an Horizonte. «Auf dem Bahnhof höre ich viele Sprachen, die ich nicht mehr zuordnen kann. Ebenso auf der Post, im Einkaufsladen… praktisch überall in meinem Alltag. Selbst in meinem katholischen Pfarrblatt blicken mich fremdsprachige Seiten an.» Viele Leute glaubten, ihre Probleme hätten mit den Ausländern zu tun, führt Thomas Wallimann-Sasaki weiter aus. «Seit diese gekommen sind – so glauben viele –, ist die Situation bei uns aus dem Lot geraten.» Die SVP verspreche mit ihrer Initiative, dass sie mit einfachen Massnahmen die heile Welt wieder herstellen könne. Der Aargauer SVP-Parteisekretär Pascal Furer sieht das anders: «Die konsequente Ausschaffung von Kriminellen macht die Schweiz sicherer, sichert Sozialwerke durch Senkung des Sozialmissbrauchs und schützt anständige und integrierte Ausländer».

«Christen müssen nein stimmen»
Anstelle der üblichen Einzelfallbeurteilung durch die Gerichte soll ein Delikte-Katalog die Voraussetzungen für einen Ausschaffungsentscheid definieren. Diese offenkundig andere rechtliche Behandlung gegenüber Schweizerinnen und Schweizern soll auch für Secondos gelten: Für Menschen, die wie Schweizerinnen und Schweizer in diesem Land geboren wurden und aufgewachsen sind, deren Eltern aber Ausländer sind. Der Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki wählt deutliche Worte: «Da gibt’s aus christlicher Sicht nichts abzuwägen. Diese Initiative verletzt die Menschenwürde – gerade auch von Menschen, die ein Delikt begangen haben.» Sie reduziere das Gesetz auf mechanische Automatismen und zerstöre damit schon fast bösartig menschliches Zusammenleben. «Aus christlich-ethischer Sicht», so das Fazit des Justitia et Pax-Präsidenten», muss man nein stimmen.

«Unverhältnismässig» und «unbarmherzig»
Ausser der SVP verwerfen alle massgebenden politischen Parteien die Durchsetzungsinitiative. Gleich zwei Kommissionen der Schweizer Bischöfe kritisieren die Initiative deutlich: Migratio (beschäftigt sich mit der Seelsorge für Migranten) und Justitia et Pax (für politisch-soziale Themen). Die Initiative sei «unnötig, respektlos und ungerecht», heisst es. Caritas Schweiz bezeichnet die Initiative als «unverhältnismässig». Bereits Bagatelldelikte würden zu einer Ausweisung führen und könnten Familien auseinanderreissen. Der Zürcher Synodalratspräsident Benno Schnüriger erachtet die Initiative gar als schlichtweg «unbarmherzig».

Secondos schon heute ausgewiesen
Bei der SVP kontert man die Kritik mit Verweis auf den Volkswillen und die bereits heute übliche Praxis. «Ausweisungen von Ausländern der zweiten Generation sind heute schon möglich und finden auch statt», erklärt der Aargauer SVP-Parteisekretär Pascal Furer. Zudem stimme es nicht, dass die Initiative gegen die Gewaltenteilung verstosse. Das sei «eine reine Behauptung der Gegner.»

Ein Viertel des Kantons unter Generalverdacht
Ein Blick in die Zahlen des kantonalen Amts für Statistik zeigt: Von 644 830 Einwohnerinnen und Einwohnern im Aargau sind rund ein Viertel Ausländer. Diese wären bei Annahme der Durchsetzungsinitiative künftig vor Gericht gegenüber Schweizerinnen und Schweizern benachteiligt, auch wenn sie in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind. 219 326 Einwohnerinnen und Einwohner sind römisch-katholisch, das ist etwa ein Drittel der Aargauer Gesamtbevölkerung. 52 061 Personen der römisch-katholischen Bevölkerung im Aargau haben keinen Schweizer Pass, also knapp ein Viertel aller Katholiken. Tendenz steigend, wenn es nach den Schätzungen des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts SPI geht. Die Römisch-Katholische Kirche wandelt sich zur «Migrationskirche» innerhalb der Ausländerinnen und Ausländer zunehmend wichtiger werden. «Christliche Migrationsgemeinden», so das SPI, «tragen in hohem Masse zu veränderten Gesichtszügen des christlichen Glaubens in der Schweiz bei. Sie erbringen zudem wichtige Leistungen im Rahmen der Integration von Migrantinnen und Migranten in der Schweiz.»

Auch die Italiener betroffen
Im Aargau stellen die Italiener seit drei Generationen unter den Anderssprachigen innerhalb der Römisch-Katholischen Kirche die grösste Bevölkerungsgruppe. In Baden sind es 9 000 Gläubige, Lenzburg-Wohlen zählt 7 500 Gläubige, Brugg 4 500. Die Seelsorgenden und administrativen Mitarbeitenden sind mehrheitlich ebenfalls Ausländerinnen und Ausländer (im Falle von Wohlen-Lenzburg vier Italiener und 2 Schweizer). «Auch diese Menschen stehen künftig unter Generalverdacht», gibt Thomas Wallimann-Sasaki zu bedenken. «Jeder, der keinen Schweizer Pass hat, ist gefährdet.» Dazu gehören auch die 8 300 Mitglieder der katholischen Albanermission. Diese beschäftigt zehn Ausländer und einen Schweizer.

Bischof Felix kämpft in den säkularen Medien
Wohl um im Namen des christlichen Glaubens ein weiteres Bekenntnis zugunsten von Barmherzigkeit gegenüber Ausländerinnen und Ausländern abzugeben, kämpft der Basler Bischof Felix Gmür an verschiedenen Fronten explizit gegen die Durchsetzungsinitiative. In einer eigens Ende Januar veröffentlichten Botschaft, mit einem Interview in der Schweizer Illustrierten und dem Engagement in der sogenannten «Gegen-Initiative» will der Basler Bischof, der in seinem Palais in Solothurn selbst Asylsuchende beherbergt, die Gefühlsebene der Menschen ansprechen und sie im Hinblick auf die bevorstehende Abstimmung sensibilisieren. «Die Initiative ist unverhältnismässig, unzumutbar und ungerecht», so Bischof Felix Gmür. «Was wären unsere Wirtschaft, unsere Wissenschaft, Kultur, Sport und auch die Kirche ohne Ausländer? Unvorstellbar, dass für einen grossen Anteil unserer Bevölkerung spezielle Gesetze gelten.» Zusammen mit dem St. Galler Bischof Markus Büchel und dem Engelberger Abt Urban Federer hat Felix Gmür einen «dringenden Aufruf» unterzeichnet, der für ein «Nein» zur Durchsetzungsinitiative der SVP wirbt. Der unter www.dringender-aufruf.ch am 25. Januar 2016 lancierte Appell ruft alle Schweizer Bürgerinnen und Bürger dazu auf, die Durchsetzungsinitiative zu bekämpfen.

Tanzverbot vor Menschenwürde
Thomas Wallimann-Sasaki räumt ein, dass sowohl die Schweizer Bischofskonferenz als auch viele andere kirchliche Institutionen die Brisanz der Thematik zu lange unterschätzt hätten. Erst als Abstimmungsprognosen der Durchsetzungsinitiative Ende Januar intakte Chancen einräumten, hätte es ein Umdenken gegeben, so der profilierte Sozialethiker. Erst spät Stellung bezog auch die Römisch-Katholische Landeskirche des Kantons Aargau. Und auch dies erst auf Anregung der reformierten Schwesterkirche, wie Kirchenrat Luc Humbel einräumt. Die Durchsetzungsinitiative sei kein Thema, hatte es noch Mitte Januar auf Anfrage bei den Katholiken geheissen. Begründung: Es handle sich um einen gesamtschweizerischen, nicht kantonalen Kontext. Man konzentriere sich auf die Tanzverbotsinitiative, über die im Aargau Ende Februar abgestimmt werde.

Gemeinsame Front
Ende Januar dann doch noch eine Medienmitteilung der Aargauer Katholiken – zusammen mit den Reformierten und den Christkatholiken. Ein «bedeutender Schritt», wie Marcel Notter, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau erklärt. Zum ersten Mal überhaupt hätten die drei Aargauer Landeskirchen zu einem nationalen Abstimmungsthema öffentlich Stellung bezogen. Die Durchsetzungsinitiative widerspreche den rechtsstaatlichen Grundsätzen. Es treffe insbesondere jene ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger am härtesten, die ihr ganzes Leben in der Schweiz verbracht hätten, heisst es in der Medienmitteilung. Die biblische Botschaft, wonach vor Gott alle Menschen gleich sind, erfordere den Widerstand der Kirchen, «wenn in der Verfassung eine unverhältnismässige Ungleichbehandlung allein aufgrund der Staatsangehörigkeit festgeschrieben werden soll.»

Bibel als Orientierungshilfe
Justitia et Pax-Präsident Thomas Wallimann-Sasaki hofft, dass sich in den letzten Wochen vor der Abstimmung auch die Dekanate und Pfarreien engagieren. «Wenn Jesus Menschen ausgegrenzt hätte, dann gebe es heute kein Christentum.» Im Gegenteil: Nahezu alle Geschichten im neuen Testament – angefangen beim barmherzigen Samariter bis hin zu verschiedenen Episoden aus der Apostelgeschichte – zeigen: Alle Menschen sind aus christlicher Sicht Kinder des gleichen Gottes und daher mit Respekt zu behandeln.

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