24.10.2013

Der Ketzer im Schatten von Augustin Keller

Von Horizonte Aargau

Den Katholiken Augustin Keller, der im Aargau im 19. Jahrhundert die Klöster stürzte, kennt eine breite Öffentlichkeit. Als Visionär gefeiert von den einen, mieden die Aargauer Katholiken seine Andenken bis in die jüngste Zeit. Nur wenige übers Freiamt hinaus kennen indes das Schicksal des Menrenschwander Gastwirts Johann Heinrich Fischer, der 1830 als Anführer des Freiämtersturms ein Husarenstück vollbrachte, hernach jedoch ebenfalls bei seinen Leuten in Ungnade fiel.

«Wohlan, so lasst uns die nötigen Anstalten treffen«, soll Johann Heinrich Fischer nach langem Zureden eingewilligt haben, den bewaffneten Protestzug gegen Aarau anzuführen. Alles versammelte Volk im Merenschwander Wirtshaus jubelte und liess den «Schwanenwirt» als «echten Vaterlandshelden» hochleben. Am nächsten Morgen sollte Johann Heinrich Fischer einen Haufen bewaffneter Freiämter anführen und jenes Ereignis in Gang bringen, das als der erste Freiämtersturm vom 5. Dezember 1830 in die Geschichtsbücher einging. 

Als Verfassungsratspräsident gegen die Freiämter
Die Aktion nahm einen triumphalen Verlauf. Die Regierungstruppen liefen entweder zu den Aufständischen über oder flohen. Die Regierung in Aarau dankte ab und beugte sich den Forderungen nach einer neuen Verfassung, die das Regime der selbstherrlich und zum Nachteil der freiämter Bevölkerung agierenden Kantonsregierung beenden sollte. Doch die Enttäuschung folgte auf den Fuss. Hatte man dem selbsternannten «General» bei seiner Rückkehr ins Freiamt noch gefeiert, so fiel Johann Heinrich Fischer kurz darauf bei den eigenen Leuten in Ungnade. Der «Schwanenwirt» aus dem «schwarzkatholischen» Freiamt sympathisierte mit liberalen Ideen und billigte als Präsident einer Aargauer Verfassungskommission die Benachteiligung der Kirche durch den Staat. Johann Heinrich Fischer schmerzte der Sympathie-Entzug. Zerknirscht soll er sich 1836 von allen politischen Ämtern zurückgezogen und nach Lenzburg begeben haben, wo er zum reformierten Glauben wechselte. 1861 verschwand er spurlos. 

Ein dankbares «Drohfingerelement» zur Mahnung 
Noch heute tun sich die Freiämter in der Erinnerung an ihren «General« schwer, wie ein Augenschein vor Ort zeigt. Zwar erinnert vor dem Wirtshaus «Schwanen» seit den 1930er Jahren eine Gedenktafel an den «Kämpfer für eine freiheitliche Verfassung und Führer im Freiämterzug», doch so richtig stolz sind die Merenschwander auf ihren «Heinrich Fischer» nicht. Den einen gilt er als Identifikationsfigur, den anderen eher als peinliche Marionette. « General Fischer verkörpert für uns Freiämter die Idee, dass es gerade als Randregion wichtig ist, zu zeigen, wer man ist», erklärt Josef Nogara, langjähriger Gemeindeammann von Merenschwand. «Dem Freiamt ist von alters her Zug und Luzern näher als Aarau, mit der Regierung dort gab es immer wieder einmal Differenzen.» Umso wichtiger sei es gewesen, sich für die eigenen Anliegen stark zu machen, meint Josef Nogara. Mit Fischers Freiämtersturm, vor dem die Aargauer Regierung kapitulierte, habe das Freiamt ein «Drohfingerelement», das bis heute das Selbstbewusstsein einer Region unterstreiche, die sich nicht «von oben herab behandeln lässt» oder zu einem «Ballenberg» reduzieren lasse. 

Sündenbock auf Vorrat
«Weil er jedoch ein Liberaler war, hat er im Grunde nie die Anerkennung der Freiämter gefunden», meint Franz Küng, heutiger Besitzer der historischen Gaststube, in welcher seinerzeit Johann Heinrich Fischer wirtete. Die eigentlichen Meinungsmacher seien die Wohlener Strohbarone gewesen, die sich bei der Verkehrserschliessung des jungen Kantons von der mit allerlei Sondervollmachten ausgestatteten Kantonsregierung übergangen fühlten. «Doch die Industriellen hatten Angst, als Anführer wegen Hochverrats hingerichtet zu werden», meint Franz Küng. «Also schoben sie den «Schwanenwirt» vor, der aufgrund seines Charismas die Leute mitzureissen verstand.» 

Von der Lichtgestalt zum Ketzer
Es scheint, als hätten die Freiämter in Johann Heinrich Fischer jemand anderen gesehen, als dieser letztlich war. Das muss ihnen schmerzhaft bewusst geworden sein, als die unter seiner Führung überarbeitete Kantonsverfasssung  die althergebrachten Rechte der Kirche in Frage stellte. Der Anführer des Freiämtersturms teilte somit letztlich das Schicksal seines bekannteren Zeitgenossen, Augustin Keller. Dieser, selbst katholisch, avancierte in den katholischen Gebieten zum Ketzer, weil er sich erdreistete, die Aufhebung der Klöster zu fordern.  

Bei den liberalen Vordenkern in Bad Schinznach 
Johann Heinrich Fischer besuchte ab 1818 regelmässig die Versammlungen der Helvetischen Gesellschaft in Bad Schinznach. Diese setzte sich für ein besseres Bildungswesen sowie die Schaffung eines Bundesstaates ein. Es ist anzunehmen, dass Johann Heinrich Fischer aufgrund seiner Tätigkeit als Lehrer mit liberalen Ideen sympathisierte. Als Dorfschullehrer in Merenschwand unterrichtete er 87 Kinder in «völlig unbefriedigenden Verhältnissen«, wie er später als Grossrat ausführte. Dass in den katholischen Gebieten ein eigentliches Bildungswesen mit Ausnahme der Klosterschulen quasi nicht existierte, dürfte ihn, ähnlich wie auch Augustin Keller, der ebenfalls Lehrer war, gestört haben. Jedenfalls hängte Johann Heinrich Fischer nach nur drei Jahren den Lehrerberuf an den Nagel und wechselte ins Wirtefach.  

Gerücht über Freitod
Seinen schlechten Ruf zementierte sich Johann Heinrich Fischer nach seinem Bruch mit dem Freiamt. «Den Freiämtern hat gewiss nicht gefallen, dass er einfach so verschwunden ist», argwöhnt Benedikt Stalder, der für den Freiämterweg den Text für die zum Weg gehörige Informationstafel in Merenschwand entwarf. Nach seinem Rückzug nach Lenzburg verschwand der «General» im Jahre 1861 spurlos. «Das hat bei vielen die Fantasie angeregt», meint Benedikt Stalder. «Gemutmasst wurde auch ein Selbstmord in der Reuss», weiss Bruno Käppeli, der Kurator des Merenschwander Ortsmuseums. Ein Gerücht, dass bei den von ihrem einst hochgejubelten Anführer enttäuschten Freiämtern schnell verfing und den «Schwanenwirt» zusätzlich diskreditierte.  

Neue Zeit, gleiche Herausforderung
Im Zeitalter der Globalisierung stellt sich für das Freiamt erneut die Herausforderung, seine Identität zu behaupten. «Mit den neuen Autobahnen und der wachsenden Bevölkerung hat der Siedlungsdruck zugenommen», weiss der ehemalige Gemeindeammann Josef Nogara. Entsprechend sei man gefordert, «bei der aktuell anstehenden Siedlungsentwicklung die eigenen Interessen gegenüber dem Kanton und dem Bund zu behaupten.» Hierbei erinnern sich die Freiämter gerne an ihr historisch gewachsenes Selbstbewusstsein und inszenieren dieses über greifbare Identifikationsfiguren. Auf diesem Wege erfuhr auch der «Schwanenwirt» seine Rehabilitation. Bereits zum 150-jährigen Jubiläum des Freiämtersturms inszenierte der «Zeigefinger des Kantons» einen neuerlichen Demonstrationszug nach Aarau. Mit dem Merenschwander Gemeindeammann als Johann Heinrich Fischer.

Andreas C. Müller

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