10.07.2014

Der Weihrauch ging und Räucherstäbchen kamen

Von Anne Jablonowski

Kurt Lussi ist Konservator für Volkskunde, Buchautor, Ausstellungsmacher und Referent. Der Luzerner, der auch als Kurator am Historischen Museum Luzern tätig ist, beschäftigt sich mit dem magisch-religiösen Brauchtum im Alpenraum und in neuerer Zeit mit ähnlichen Vorstellungen im aussereuropäischen Raum. Der Walliser Thomas Jenelten war Jugendseelsorger, leitete fünfzehn Jahre lang die Pfarrei Sankt Peter und Paul in Aarau, ist Polizeiseelsorger und seit knapp einem Jahr Heimseelsorger im Regionalen Pflegezentrum Baden. Im Rahmen der Sommerserie von Horizonte setzen sich Kurt Lussi und Thomas Jenelten mit den verschiedenen Aspekten des Themas Rituale auseinander.

Was ist der Unterschied zwischen einer Gewohnheit und einem Ritual. Ab wann wird etwas zum Beispiel zum Morgenritual, weil es mehr ist, als nur eine gewohnte Abfolge von Handgriffen?
Thomas Jenelten: Ich bin zwar kein Wissenschaftler bei dem Thema, aber es gibt schnell einen Grenzbereich zwischen Gewohnheit und Ritual. Bei mir ist das Stichwort Geheimnis wichtig. Beim Ritual kommt immer die Ebene des Geheimnis‘ dazu, die man nicht mehr greifen kann. Wenn ich als Kind Zähne geputzt habe, war das Gewohnheit. Wenn mir die Mutter für den Schulweg ein Weihwasserkreuz auf die Stirn gemacht hat, dann war das ein Ritual. Sie hat mir ein Geheimnis mitgegeben.

Kurt Lussi: Man kann sich noch die Frage stellen, was für ein Geheimnis. Ansonsten sehe ich das ähnlich. Von der Forschung und vom Kontakt mit anderen Kulturen her, ist das Ritual etwas, das in ganz speziell vorgeschriebener fester Form, von der Tradition überlieferter wurde um in Kontakt mit höheren Mächten zu treten. Ich sage nicht Gott, sondern höhere Macht, weil das für alle Kulturen gilt. Ein Ritual hat immer etwas mit dem Heiligen zu tun. Das Ritual ist also etwas, was man nicht einfach so macht, wie zum Beispiel Zähne putzen. Durch das Ritual soll die höhere Macht angerufen werden. Im Gegensatz dazu fehlt beim Brauchtum der spirituelle Aspekt, wie dies zum Beispiel bei der Fasnacht zutrifft. Und Gewohnheit ist etwas, das Vertrauen und Sicherheit, ein Gefühl des Aufgehobenseins schafft.

Das sagt man auch von Ritualen. Egal wo ich auf der Welt in einen katholischen Gottesdienst gehe, ich fühle mich dort aufgehoben, weil er überall gleich ist. Und das ist ja mehr als Brauchtum und Gewohnheit.
Kurt Lussi: Wenn man in eine katholische Messe geht, entsteht Vertrautheit. Aber der Effekt der Messe ist ja mehr: Es geht um den Kontakt mit dem Göttlichen. Und das Ziel ist auch, dass ich anders aus der Kirche komme, als ich reingegangen bin. Der Besuch soll eine Bereicherung sein. Wenn das nicht passiert, muss ich entweder nicht gehen, oder ich besuche die Heilige Messe nur noch aus Gewohnheit. Gewohnheit und Ritual sollten nicht vermischt werden, denn das Ziel des Rituals ist ein anderes. Auch beim Brauchtum können Gefühle da sein. Ich fühl mich wohl an der Fasnacht oder in einer Zunft.  Das Brauchtum richtet sich nach ganz speziellen Leitplanken. Das kann man nicht einfach so praktizieren. Brauchtum heisst ja „in Gebrauch“. Aber den spirituellen Charakter, den es mal gehabt hat, gibt es nicht mehr. Deshalb würde ich ganz klar trennen zwischen Brauchtum und Ritual. Ritual ist für mich immer das in Kontakt treten mit etwas Heiligem, einer höheren Macht. Und bei der Gewohnheit, da gibt es keine Vorschriften, die schafft man sich selber.

Hat ein Riutal zwingend eine Verbindung mit einer Höheren Macht?
Thomas Jenelten: Ich ringe etwas mit dem begriff «höhere Macht». Ich würde es eher «göttliches Geheimnis» nennen. Doch grundsätzlich ist es schon so: Ritual hat etwas mit dem Berühren des Göttlichen zu tun. Wenn das verschwindet, ist es nicht mehr Ritual. Das andere ist ja, dass ein und dieselbe Tätigkeit manchmal ein Ritual ist und manchmal nicht. Ich war fleissiger Ministrant und Kirchgänger: was ich da erlebt habe, war nicht immer Ritual.

Kurt Lussi: Im Christentum hat der Begriff Macht einen Beigeschmack. In anderen Kulturen spricht man von einer «mystischen Kraft» und stellt sich vor, dass diese Kraft in das Leben des Menschen eingreift.

Vielen Menschen sagen die kirchlichen Rituale nichts mehr und sie suchen sich neue Formen und freie Ritualgestalter. Müssten Rituale flexibler sein, damit sie näher beim Menschen sind oder widerspricht das einem Ritual?
Kurt Lussi: Wenn man ein Ritual aufweicht, wird die Vertrautheit eliminieren. Wenn ein Priester plötzlich nur noch neue Lieder singt, sind ältere Menschen überfordert. Es wäre besser, die Rituale wieder mit Leben zu erfüllen. Nicht das Ritual muss folglich geändert werden, sondern man sollte stattdessen das Verständnis für das Ritual wecken. Ich habe Priester erlebt, die das gemacht haben. Und plötzlich konnten die Menschen im Ritual wieder einen Sinn sehen. Das ist eine Herausforderung für die Theologen.

Thomas Jenelten: Ich denke man muss Rituale immer wieder neue entwickeln. Ich bewege mich als Polizeiseelsorger in einem eher säkularen Umfeld. Ebenso bei der Feuerwehr in Aarau. Da ist die ganze Palette der Gesellschaft vorhanden. Aufgrund der gesellschaftlichen Situation wäre es notwendig, immer wieder neue Rituale auszuprobieren. Ein Beispiel: Ich habe bei der Erweiterung eines Feuerwehrlokals die Einweihung mitgestaltet. Offiziell eine Einweihung, aber letztlich war es eine Eröffnung. Ich sollte etwas sagen, nicht als katholischer Seelsorger, sondern allgemein. Ich habe dann einen lustigen Engel mitgebracht und gesagt: der sitzt im Mannschaftsraum und erinnert uns daran, dass die Feuerwehrleute füreinander da sein sollen. Dieser Engel sass dann dort. Einen Monat später ist ein Feuerwehrkamerad schwerkrank ins Spital gegangen und einer seiner Kollegen hat den Engel ins Spital gebracht, damit er die Verbindung zu den anderen nicht verliert und einen Schutz hat. Das sind für mich Versuche, «mystical power» ins Leben zu tragen. In dem Fall die Kraft zwischen den Feuerwehrleuten. Das ist natürlich vor allen Dingen ein Versuch. Doch so ist es in der Gesellschaft: wir fragen, was ist eine Form, die Halt gibt und die etwas erfahrbar macht von der göttlichen Kraft in der äusseren Welt.

Kurt Lussi: Da muss ich dann fragen: ist das ein Ritual? In den ursprünglichen Kulturen oder dem Judentum sind die Rituale strikt vorgeschrieben. Wenn man sich nicht an diese Vorschrift hält, stellt man die Wirkung in Frage. Was Sie tun ist wunderschön, aber ist dies wirklich ein Ritual? Oder ist es einfach eine Form, eine Botschaft zu vermitteln? Bei Ritualen schauen wir auf einem Kontext von Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden.

Wie würden sie dann aber einem Laien erklären, was ein Ritual ist? Was macht ein Ritual aus?
Kurt Lussi: Ein Ritual ist ein Ablauf von ganz verschiedenen Handlungen, die sich aneinanderreihen.  Rituale sind von der Tradition überliefert. Sie haben immer den Zweck, Spiritualität zu erzeugen. Derjenige, der es ausführt, löst sich in einem gewissen Sinne von der Alltagswelt. Der Priester beispielsweise legt ein Messgewand an und ist nicht mehr der Kollege, mit dem ich jassen gehe. Ich habe vielleicht sogar Mühe ihn zu duzen, wenn ich ihn persönlich kenne. In der Messe ist er in der Funktion eines Ritualleiters. Er befindet sich in einer anderen Welt. Das was im Ritual stattfindet, ist ein Zeremoniell, dass sich auf ein bestimmtes Ziel ausrichtet, nämlich mit den göttlichen Mächten in Kontakt zu treten. Das ist bei allen Religionen so, die ich kenne.

Thomas Jenelten: Ja. Wenn ich als Gemeindeleiter getauft habe oder Abdankungen durchgeführt habe, war das Gewand sehr wichtig. Ich bin dann nicht mehr der private Thomas Jenelten, sondern habe eine Funktion. Das Ritualkleid ist sehr wichtig. Auch um mich zu schützen. – Was mich sehr beschäftigt ist, wie man dieses Geheimnis vom Leben in einer säkularisierten Gesellschaft vermitteln kann. Das ist eine Suche mit manchmal überraschendem Ausgang. Ein Paar wollte sein Kind taufen lassen. Doch sie wollten es ganz anders machen. Wir haben diskutiert, überlegt, was sie sich wünschen und zum Schluss kamen wir doch beim traditionellen Ritual an.

Kurt Lussi: Ich stelle auch fest, dass die Rituale geschätzt werden, wenn man sie erklärt. Das aber wurde und wird oft versäumt. Kardinal Henri Schwery (unter Anderem Vorsitzender der Schweizer Bischofskonferenz von 1983- 1988, Anmerkung der Redaktion) hat etwas sehr Bedenkenswertes geäussert, als er vor einigen Jahren in einem Vortrag sagte: «Die Kirche ist mit der traditionellen Messe und dem Weihrauch durch den Hauptgang der Kirche ausgezogen und durch die Seiteneingängen sind die Esoteriker mit den Räucherstäbchen hereingekommen.» Die Kirche hat der Esoterik mit den Boden bereitet, weil sie sich von manchen Ritualen verabschiedet hat. Damit ist eine Lücke entstanden. Diese wurde durch neue Rituale und Interpretationen gefüllt. Ich sage nicht, dass das gut oder schlecht ist, ich stelle dies einfach fest. Die Menschen wollen in allen Sinnen angesprochen werden. Wenn die Kirche das nicht mehr kann oder macht, suchen sie sich etwas Neues. Alte, teilweise sehr schöne Rituale, sprechen die Menschen auch heute an, sofern man ihnen den Sinn erklärt. Es hat seine tiefen Gründe gehabt, weshalb man zum Beispiel Kirchen gegen Osten gebaut hat und der Priester die Messe mit dem Gesicht gen Osten und damit mit dem Rücken zum Volk feierte. Ich sage nicht, dass man alte Praktiken wie diese wieder einführen soll, aber wenn man den Sinn erklärt, kommt oft ein Aha-Erlebnis bei den Menschen und sie fragen nach, warum das im Religionsunterricht nicht erklärt wird.

Wie sieht das mit 15 Jahren Praxiserfahrung in einer zunehmend säkularen Umgebung aus? Könnte man alte Rituale, die ihren Sinn haben, wieder beleben oder ist es einfacher, neue Rituale zu erarbeiten.
Thomase Jenelten: Bei kirchlichen Menschen ist das wiederbeleben sicher einfacher. Da gibt es über die kirchliche Sozialisierung einen Zugang. Sinnvoll und notwendig ist das bei Generationen, die diese Sozialisierung nicht erlebt haben. Vermittlung von Ritualen ist Erfahrungsvermittlung. Wenn man das gut verbinden kann, prima. Richtig ist: Man sollte Rituale nicht einfach verschwinden lassen. Ein gutes Beispiel ist die letzte Ölung. Die gibt es nicht mehr, es ist jetzt die Krankensalbung. Das Bedürfnis nach einem Starken Zeichen für den Übergang ist damit aber nicht abgeschafft. Das ist da. Die Frage trifft mich weniger akut, weil ich kein Priester bin. Aber Kirche hat an solchen Traditionen geschraubt. Es ist gut, dass es eine Krankensalbung gibt, aber dass der Übergang nicht mehr so ritualisiert ist wie früher, ist schade und das fehlt den Menschen.

Kurt Lussi. Und die Lücke wird gefüllt. Durch andere. Da vergibt sich Kirche eine Chance bei den Menschen zu sein. Das ist schade. Damit hängt auch die Frage zusammen, ob diese Anderen kompetent sind. Meine Frau hat eine Ausbildung als Sterbebegleiterin gemacht, und obwohl es eine gute Ausbildung ist, wurde nie nur ein Wort über die Rolle der Heiligen oder die Gottesmutter Maria verloren. Wenn eine Sterbebegleiterin zu einer katholischen Sterbenden kommt, wird sie kaum einen Anknüpfungspunkt haben. Was will eine 80-jährige mit modernen Ritualen? Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr ein Mariengebet hilft, ist da ungleich grösser. Die Ausklammerung der traditionellen Vorstellungen sehe ich als Verlust. Ich persönlich möchte einmal priesterlichen Beistand haben.

Thomas Jenelten: Das kann ich nachvollziehen. Im Wallis grossgeworden, habe ich noch nie so viele Marienlieder gesungen, wie jetzt in Baden. Nicht, weil ich besonders Marienfromm wäre, aber es sind für viele alte Leute die bekannten Lieder. Die sie brauchen und wo sie sich daheim fühlen, die sich geborgen fühlen unter dem weiten Mantel der Maria.

Rituale sind jeweils stark geprägt von der Kultur, in der sie entstanden sind. Sind Rituale transportabel von einer Kultur in eine andere, oder funktioniert das nicht?
Kurt Lussi: Das funktioniert wunderbar. Aus dem einfachen Grund: Der Inhalt der Rituale ist in vielen Bereichen ähnlich. Nur die Form ist verschieden. Einflüsse anderer Kulturen können auch ihr Gutes haben. Nehmen wir das Beispiel Halloween. Viele Menschen sehen darin eine Gefährdung unserer Glaubenswelt. Aber dank Halloween haben viele Allerheiligen neu entdeckt. Es ist also nicht nur negativ, wenn bestimmte Brauchtümer einwandern, denn wir können durch diese «Bedrohung» unser eigenes Brauchtum wieder mit neuem Leben füllen. Es ist eine Bewusstmachung. Erst wenn ein Ritual bedroht wird, erkennen wir seinen Wert. Und das ist gut.

Thomas Jenelten: Mir kommt das Grundritual vom Teilen des Brotes in den Sinn. Ob ich das in der reformierten oder katholischen Tradition, im Wallis oder im Aargau oder in Tansania erlebe: Wenn es zum Ritual wird, hat es überall die Kraft verständlich zu sein. Es ist ein Zeichen der Verbundenheit. Und auch in einem säkularen Hintergrund wird wahrgenommen, dass es mehr ist als physisch erfassbar. Ich habe häufiger sagen gehört: Als das Brot geteilt wurde, da ist etwas anders geworden. Diese Grundform wirkt also.

Kurt Lussi: Ich habe das in Gwassi am Viktoriasee erlebt. Wir sind an einem heiligen Ort gewesen und haben dort mit den Einheimischen ein Ritual zelebriert und eine Schüssel heiliges Wasser geteilt. Das war eine derart sakrale Stimmung, da habe ich nie über mögliche Krankheitserreger nachgedacht. Das heilige Wasser habe ich mit dem Gefühl entgegengenommen, mit etwas Heiligem in Berührung zu kommen. Und der Priester, sie nennen sich Priester, sind aber keine Priester im katholischen Verständnis, war unglaublich feinfühlig. Inhaltlich und von dem, was ich gespürt habe, wie ich mich bereichert gefühlt habe, ist das ebenbürtig gewesen zu einer Messe. Es ist also falsch, zu sagen: das Fremde ist ja nichts wert. Es ist einfach anders.

Weil das Ritual einen Inhalt hat, der über uns selber hinaus verweist?
Kurt Lussi: Ja. Und weil er Dinge gesagt hat, die bei mir noch immer nachwirken. Das zeichnet auch einen guten Priester bei uns aus. Wenn er mit seiner Predigt einen Gedanken mitgibt, über den man noch lange nachdenkt, geht man bereichert nach Hause.

Aber heisst das nicht letztlich, dass die Stärke, die in einem Ritual liegt auch sehr von der Person abhängt, die es durchführt?
Kurt Lussi: Ja das ist so. Ein Exorzismus beispielsweise ist nur so gut oder so schlecht, wie der Exorzist.

Hat die Kirche zu wenige Leute, die Rituale authentisch kraftvoll vermitteln und durchführen?
Thomas Jenelten: Darüber denke ich auch nach. Was ist der Teil von meiner Person, der in einem Ritual präsent ist, das ich leite. Es häng damit zusammen, dass ich darauf vertraue, selber in Berührung mit dem göttlichen Geheimnis zu kommen. Und gleichzeitig als Person sehr diskret bin. Es geht ja nicht um mich. Wenn ich auf Showman mache, geht das Ritual kaputt. Es braucht eine grosse Kargheit in meiner Person, wobei ich gleichzeitig wirklich im Ritual stehen muss. Ich bin im Sommer bei einer Konfirmation gewesen und habe bei dem Pfarrer gedacht: Hey steh hin! Die jungen Leute brauchen die Kraft des Rituals. Es wirkte, als habe er selber nicht daran geglaubt, dass etwas Wesentliches passiert.

Kurt Lussi: Ein anderes Beispiel ist ein älterer Kaplan, den ich kenne. Manchmal ist er vielleicht etwas zerstreut, redet langsam und bedächtig. Aber er hat innere Kraft und spirituelle Stärke. Seine Ausstrahlung zeigt: Er lebt seine Spiritualität, die sehr mitreissend und einbeziehend ist.

Aber ein solches Charisma kann man ja nicht antrainieren oder anlernen?
Thomas Jenelten: Mir kommt noch das Wort Präsenz oder präsent sein in den Sinn. Jemand kann eventuell etwas verhuscht wirken, aber dennoch da sein. Das kann man schon lernen, aber es hat vor allen Dingen mit innerer Überzeugung zu tun.

Kurt Lussi: Ich habe in Afrika  einen Witchdocter besucht. Wir waren dort im Dorf und man spürte, in welcher Hütte dieser Mann lebt. Seine Ausstrahlung oder Präsenz war weit um seine Hütte spürbar. Seine Rituale, seine Kultur sind afrikanisch, aber der Inhalt der Rituale war mir vertraut. Auch da: Wenn es im Zentrum nicht stimmt, ist das äussere Ritual nur noch Brauchtum. Und wenn das Innere stimmt, ist das Äussere des Rituals manchmal nicht mehr massgebend. Das heisst man muss die Frage etwas relativieren.

Es gibt also Variablen in einem Ritual?
Kurt Lussi: Ja, aber nicht nach Belieben. Im Voodoo Louisianas gibt es gewisse Eckpunkte, die man einhalten sollte. Wenn ein Voodoo-Priester davon abweicht, ist das auch gut. Es ist dann einfach nicht mehr Louisiana-Voodoo.

Gibt es die Frage nach zunehmender Säkularisierung und der damit verbundenen Abwendung von den Kirchen und damit den klassischen Ritualen in Afrika auch, oder ist das ein europäisches Problem?
Kurt Lussi: Interessante Frage. Ich denke, das hat mit der Entspiritualisierung unserer Gesellschaft und der Hinwendung zum Materialismus zu tun. Heute gilt alles als machbar und erklärbar. Die kirchlichen Orden, in denen Spiritualität gelebt wird, haben es schwer, Nachwuchs zu finden. Und Pfarrer müssen sich häufig um die Administration kümmern. Dementsprechend fehlt ihnen Zeit für die eigentliche Seelsorge. Das hat mit dem System zu tun. Ein Witchdoctor beispielsweise ist einfach für die Dorfbewohner da. Das können wir uns hier nicht vorstellen. Ich habe in Nairobi einen Freund der studiert hat und heute Geschäftsmann ist. Gewisse Fragen diskutiert der nicht. Weshalb hat er dies oder jenes Zeichen in seinem Geschäft hängen? Gegen Autodiebstahl zum Beispiel. Wenn jemand sein Auto klaue, erzählte er mir, müsse der Betreffende in die Knie gehen und Grass essen. Auf meine Einwendungen hin, ob das funktioniere, erwiderte er jedes Mal: «This is Africa – things like this work in Africa».

Heisst das, die Welt dort ist grösser. Die unsichtbare Schöpfung ist nicht nur ein Satz, der zwar gesagt, aber vielleicht nicht geglaubt wird?
Kurt Lussi: Ja. Auch im Voodoo. In New Orleans ist Voodoo Teil des täglichen Lebens. Und beim Voodoo in Louisiana geht es nicht um Schadenzauber, sondern um das Gute. Das schlechte Image das Voodoo in unserer Kultur hat, entstand durch die amerikanische Filmindustrie. Es gibt auch im Voodoo Heiligenbilder. Wie in unserem Volksglauben werden diese Heiligen als Vermittler zwischen den Menschen und Gott angerufen.

Das heisst, es funktioniert eine Integration von kulturell anderen Formen? Das, was wir Synkretismus nennen?
Kurt Lussi: Ja. Und im Voodoo ist es sogar so: Die, die ihn wirklich praktizieren sind Katholiken. Im Prinzip wird das, was wir Volksglauben nennen, in den USA als Voodoo bezeichnet. Wenn ich unseren Volksglauben anschaue, dann ist dieser auch nicht immer mit der Bibel kompatibel. Heilige zum Beispiel können nicht helfen. Wenn sie das könnten, wäre das Christentum nicht monotheistisch. Die Heiligen werden daher fürbittweise angerufen. Auch ein Gnadenbild hat keine eigenen beziehungsweise magischen Kräfte. Das wurde den Gläubigen bereits in den Katholischen Handpostillen des 19. Jahrhunderts vermittelt, mit wenig Erfolg. Gleichwohl berühren Menschen heilige Dinge, um von diesen Kraft aufzunehmen. Inhaltlich ist es ähnlich wie Voodoo, nur eben europäischer Volksglaube.

Ist vieles, was wir glauben und in Ritualen tun, zu intellektualisiert?
Thomas Jenelten: Wie ich das sehe, hat in unserer Kultur das Geheimnis schon keinen Platz mehr. Eine verantwortbare Theologie seitens der Kirche versucht schon, das Geheimnis zu retten. Doch es gibt die Strömungen, die anstelle des Geheimnis` eine Art Magie setzen. Zum Beispiel im Gesundheitsbereich. Das ist etwas, was mir zu denken gibt. Das Geheimnis hat keinen Platz und die Kirche muss aufpassen, dass sie selbst das Geheimnis nicht auch noch plündert, indem sie sich zu sehr anpasst. Wenn in einem Konfirmationsgottesdienst nur noch Pinklieder gespielt werden, dann traut man den Ritualen eigentlich nichts mehr zu.

Oder den Jugendlichen, dass sie die Rituale verstehen?
Kurt Lussi: Wenn sich ein Ritual auf die göttliche Dimension bezieht, dann muss es sich vom Alltag abheben. Und die Jugendlichen sollen das auch spüren. Wenn es dies nicht tut, wird die Heiligkeit des Rituals profanisiert. Aus einer Messe wird dann eine Veranstaltung und ist damit sinn- und spiritualitätsentleert. Es muss deutlich werden: Wir gehen jetzt in eine andere Welt, an einen anderen Ort. Deswegen legen Priester Messgewänder an. Genau das macht das Geheimnis aus. Nimmt man es weg, geht auch das Volk. Wenn dies im angestammten Glauben nicht mehr stimmt, holen sich die Menschen das Geheimnisvolle woanders.

Das heisst, Kirche sollte sich nicht verbiegen, sondern alte Rituale durch charismatische Personen neu lebendig machen.
Thomas Jenelten: Kirche muss einfach aufpassen. Der Riutalleiter sollte nicht zum Moderator und die Mitfeiernden nicht zum Publikum werden.

Kurt Lussi: Diese Aussage gefällt mir. Ich brauche keinen Priester, der sich als Unterhalter versteht. Wenn es nur noch darum geht, ob man die Kirche voll hat, ist das meiner Meinung nach kein Zeichen für Erfolg.

Hier wurde hauptsächlich von Priestern gesprochen. Aber die Durchführung von Ritualen liegt ja auch in den Händen von Laienseelsorgern. Muss ein Ritualleiter ein geweihtes Haupt sein?
Kurt Lussi: Ich bin der Meinung, dass eine Weihe sein muss. Aber ob die geweihte Person eine Frau oder ein verheirateter Mann ist, ist für mich nicht entscheidend. Weihe heisst für mich: Es ist eine Persönlichkeit, die wir durch die Weihe zur Gemeindeleitung auszeichnen. Aber nicht in dem Sinne, dass man unbedingt Theologie studiert haben muss. Die persönlichen Grundvoraussetzungen, die es für eine Weihe oder zumindest für eine Beauftragung braucht, muss die betreffende Person jedoch mitbringen.

Thomas Jenelten: Diese Meinung teile ich grundsätzlich. Es braucht eine Beauftragung – allerdings finde ich die Beschränkung auf die Gemeindeleitung zu eng. Es ist die Verantwortung der Kirchenleitung die Bedingungen entsprechend zu gestalten. Im Moment sind wir in der unglücklichen Situation, dass wir zu wenige Leute haben, die diese Beauftragung in Form der Weihe haben. Wenn das Sakrament der Krankensalbung ausstirbt, dann liegt das unter Anderem daran, dass Viele (auch ich) dieses Ritual nicht feiern dürfen, weil die festgelegten Voraussetzungen sehr eng sind.

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