23.01.2022

Die Weitergabe von Traumata über die Generationen
«Die dritte Generation stellt eher Fragen»

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Christiane Faschon ist katholische Theologin und war von 2007 bis 2017 Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Schweiz (AGCK.CH).
  • Ihre Grosseltern litten unter der Naziverfolgung.​ Sie kennt daher die seelischen Nöte der Opfernachkommen aus eigener Erfahrung.
  • Im Interview betont sie die Wichtigkeit einer soliden Traumatherapie und prangert die Untätigkeit der Kirche in der Aufarbeitung der Traumata an.


ChristianeFaschon, Ihr Vater wurde wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgt. Haben Sie die Weitergabe von Traumata persönlich erlebt?
Christiane Faschon: Ja, ich fühlte mich sehr für das Wohlergehen meiner Eltern verantwortlich und habe sie auch deshalb lange gepflegt. Ausserdem trage ich immer noch Ängste mit mir herum und höre bis heute das Gras wachsen, das heisst, ich bin eher übervorsichtig. Ich mache mir schnell Sorgen um Nahestehende.

Wie oder woran wurde Ihnen bewusst, dass Sie, wie andere Opfernachkommen, das Trauma ihrer Eltern weitertragen?
Während des Studiums stiess ich auf die ersten Publikationen zur TTT-Forschung* aus den USA und Israel. Im Detail habe ich viel aus den Workshops von Tamach** gelernt. Dort traf ich Fachpersonen und Betroffene. Dies auch bei meinen Aufenthalten in Israel.

Sie schreiben: «Die zweite Generation versucht, die Eltern von den seelischen Schrecken zu erlösen und fühlt sich oft lebenslang für sie verantwortlich. Sie spricht nicht über die eigenen Sorgen. Viele zweifeln, ob sie glücklich sein dürfen, wenn die Eltern leiden.» Wie äussern sich die Traumata in der dritten Generation, den Enkelinnen und Enkeln?
Auch TTT-Forscher sind überrascht, wie ausgeprägt die Traumata in der dritten Generation sind. Ein Teil der Betroffenen aber kann über die Folgen der Traumata sprechen und sich von den Belastungen abgrenzen. Auch stellen sie ihren Grosseltern eher Fragen, die die Eltern nicht zu stellen wagten oder nicht stellten. Etwa die Frage, was genau in der Verfolgungszeit mit ihnen geschah. Manche leiden aber auch an diffusen Belastungen, deren Ursachen sie nicht kennen, besonders wenn sie keine oder nur wenige Informationen haben, was wirklich geschehen ist. Die Phantasie kann erschreckender sein als die Realität. Die liberalen jüdischen Gemeinden verzeichnen übrigens eine Anzahl von Eintritten vor diesem Hintergrund und aus dieser Generation.

Unterscheiden sich die Traumata der Täternachkommen von denjenigen der Opfernachkommen?
Ja, nicht unbedingt in der Intensität, aber in der Qualität. Es geht um Scham und Schuldgefühle, die überwältigend sein können oder von manchen auch verdrängt werden. Täternachkommen sind «moralisch auf der falschen Seite», wie ein Sohn mir einmal sagte. Das ist eine besondere Belastung. Der Satz «mein Vater/Grossvater ist ein Massenmörder» kommt Nachkommen nicht leicht über die Lippen. Enkelinnen und Enkel dieser Gruppe äussern sich zunehmend in Filmen und Publikationen und arbeiten die Familiengeschichte auf.

Der Prozess der Epigenetik, der für die Weitergabe von Traumata über mehrere Generationen verantwortlich ist, ist um​kehrbar. Was hilft, diesen Prozess rückgängig zu machen?
Solide Traumatherapien helfen. Der Umgang mit Stress wird erleichtert und damit die epigenetische Belastung. Leider mangelt es gerade in der Schweiz an ausgewiesenen Fachleuten sowohl für Täter- als auch Opfernachkommen. Selbsthilfegruppen sind ebenfalls hilfreich; dort erlebt sich der oder die Einzelne als Teil einer Gemeinschaft mit ähnlichen Problemen. Man muss nicht alles erklären, wird verstanden.

Was hat die Kirche zur Verarbeitung der Traumata der zweiten und dritten Generation beigetragen?
Leider so gut wie nichts. Die Gruppe der Menschen etwa, die als Getaufte unter die Nazi-Rassengesetze fielen, ist gross. Sie und ihre Nachkommen finden aber bis heute kaum Aufmerksamkeit, auch nicht in der Seelsorge. Nicht wenige dieser dritten Generation der Christen jüdischer Herkunft gehen wieder in jüdische Gemeinden, was teilweise einer aufwendigen Konversion bedarf. Diese Gleichgültigkeit gilt für die Nachkommen der Täter, die ebenfalls fast alle in der zweiten Generation noch kirchlich sozialisiert wurden. Man hielt und hält sich gern ans Prinzip «vergeben und vergessen», das mit der Opfertheologie begründet wird. Jüdische Gemeinden bieten da ein anderes Umfeld.


Wie könnte die Kirche zur Verarbeitung beitragen und helfen, die Weitergabe von Traumata zu unterbrechen?
Das Thema müsste zuerst einmal wahrgenommen werden. Es gehört in die Ausbildung der Seelsorgenden, möglichst zusammen mit Traumafachpersonen. Es geht ja nicht nur um Shoahbetroffene. Alle Traumatisierten und von Gewalt Betroffenen – manche haben ja auch kein Trauma davongetragen – geben ihren Rucksack weiter!

*TTT: Abkürzung für «Transgenerational Transmission of Traumata», die Weitergabe von Traumata über die Generationen.
**Tamach: Von Psychologinnen 1988 in Zürich gegründete Beratungsstelle für Holocaustüberlebende und Angehörige.

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