28.11.2018

Die Kanti Baden entdeckt Afghanistan

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Nahe bei der Kantonsschule Baden liegt die Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Restaurant «Metropol». Seit Februar 2018 treffen sich Kantischülerinnen und -schüler regelmässig mit Asylsuchenden zum Deutschlernen.
  • Um mehr über das Herkunftsland der Asylsuchenden zu erfahren, hat die Kanti Baden eine «Afghanistanwoche» organisiert. Heute Donnerstag, 29.11, und morgen Freitag, 30.11, laufen die letzten Veranstaltungen.

 

Terror und Taliban. Das fällt vielen als erstes ein, wenn von Afghanistan die Rede ist. Doch  Simon Hofmann, Geschichtslehrer an der Kantonsschule Baden, beginnt seine Afghanistanlektion mit Polo Hofer. Der gemeinsame Nenner zwischen Polo und Afghanistan heisst – wenig schmeichelhaft für den verstorbenen Musiker – «Drogen». Eine Liedzeile im Song «Summer 68» lautet: «Mir hei’s begriffe, si wägem Kiffe nach Kabul». Simon Hofmann erzählt vom Hippie-Trail, der ausländische Touristen durch Afghanistan führte. 700’000 Ausländer kamen in den 1970er-Jahren jährlich nach Kabul, viele wegen der Drogen. Heute produziert Afghanistan schätzungsweise 85 Prozent des weltweiten Opiums, aus dem Heroin hergestellt wird. Die Hälfte des afghanischen Bruttoinlandprodukts stammt aus der Drogenproduktion. Also doch: Terror, Taliban, Drogen und Anarchie?

Weder romantisieren noch verachten

Als Gegenbild zeigt Simon Hofmann den ersten Band des Reiseführers «Lonely Planet» aus dem Jahr 1973. «Across Asia on the Jeep» heisst das Buch. Es zeichnet ein romantisches Bild von Afghanistan. Von einer Landschaft mit ursprünglicher Schönheit und uralten Städten ist die Rede. Schwärmerisch erzählt das Buch von den stolzen Afghanen, Inbegriff der «Edlen Wilden». Aber Simon Hofmann betont: «Weder Romantisierung noch Verachtung werden Afghanistan gerecht.»

Der Plan hat funktioniert

Sarah Knecht und Benjamin Ruch unterrichten beide an der Kantonsschule Baden. Von ihnen stammt die Idee, dass Kantischülerinnen und -schüler den Bewohnern des nahen Asylheims Deutschstunden geben könnten. Aus eigener Erfahrung weiss Sarah Knecht, dass viele Schüler sich gerne sozial engagieren. Die Biologielehrerin erinnert sich, dass sie selber als Schülerin solche Möglichkeiten sehr schätzte. Neben ihrem Beruf hat sie schon verschiedentlich freiwillig mit Flüchtlingen gearbeitet, auch im Ausland. Benjamin Ruch ist Kantonaler Beauftragter der Römisch-Katholischen Landeskirche an der Kanti Baden, er unterrichtet Religion und organisiert Projekte mit kirchlichem Bezug. Sarah Knecht und er hätten den Schülern anfangs bei der Koordination der Deutschlektionen mit ihren afghanischen Schülern geholfen, inzwischen organisierten sich die Gruppen via Whatsapp-Chat jedoch selbständig, erklärt Benjamin Ruch. «Das war von Anfang an unser Plan und es freut mich, dass er so gut funktioniert hat», sagt Sarah Knecht.

Voller Ehrgeiz am Sporttag

Aus den Deutschlektionen hat sich ein guter Kontakt zwischen Kantischülern und Asylsuchenden ergeben. Viertklässlerin Maja Buri erzählt von einem WM-Fussballspiel, das sie zusammen mit den afghanischen Flüchtlingen im «Foyer» der Kanti geschaut haben: «Ein super Abend! Wir haben den Match geschaut, zusammen diskutiert, gefeiert und danach auch gemeinsam geputzt und aufgeräumt». Auch beim Sporttag der Kanti waren einige Asylsuchende dabei. «Wir fragten sie an, ob sie bei uns in der Mannschaft mitspielen. Sie waren mit vollen Einsatz und richtig viel Ehrgeiz dabei, so dass wir am Schluss sogar gewonnen haben», erzählt eine Schülerin. Mit dem intensiveren Kontakt ist auch das Interesse am Herkunftsland der Flüchtlinge gewachsen. Wie sieht es in Afghanistan aus? Wie lebt man dort? Warum haben die jungen Männer ihr Land verlassen?

Spielball fremder Mächte

Auf die letzte Frage bekommen die mehr als 30 Besucherinnen und Besucher der ersten Veranstaltung der Afghanistanwoche Antworten. Simon Hofmann zeigt, dass die Konstanten von Afghanistans Geschichte Konflikte, politische Instabilität und eine schwache Zentralregierung sind. Das Land von der Grösse Frankreichs wurde im Lauf der Geschichte immer wieder zum Spielball fremder Mächte. Die Briten schufen dann mit ihrer Grenzziehung von 1919 ein koloniales Konstrukt, das enormes Konfliktpotential birgt. Im Land gibt es 49 Sprachen, 200 Dialekte und über 50 Ethnien. Die nationale Identität ist schwach ausgeprägt, die wichtigsten Identitätsbezüge sind die Familie, die Clans, die Stammesgruppen und die Dörfer. So laden sich Konflikte leicht religiös oder ethnisch auf.

Das Ziel ist Frieden

40 Jahre Bürgerkrieg hat Afghanistan hinter sich. Die Hälfte der Bevölkerung ist geflohen oder wurde vertrieben. Noch immer herrscht im Land Bürgerkrieg. Diverse Gebiete verteilt übers ganze Land sind von den Taliban statt von der offiziellen Regierung kontrolliert. Auch der sogenannte Islamische Staat beansprucht ein Gebiet für sich und ist im Land mit seinem Terror präsent. Afghanistan hat 25 Prozent Arbeitslosigkeit und über 60 Prozent Analphabeten. Eine Lösung mit militärischen Mitteln hat sich über die Jahrzehnte als Trugschluss erwiesen. Die USA versuchen heute, mit den Taliban eine Verhandlungslösung zu finden. Das Ziel ist Frieden im Land. Simon Hofmann schätzt vorsichtig: «Es scheint wahrscheinlicher als auch schon, dass eine Lösung der Konflikte am Verhandlungstisch möglich sein könnte».

Schotterpisten und Fladenbrot

Frieden in Afghanistan wünscht sich auch Martin Hongler. Dann könnte er endlich zu Fuss durch Kabul streifen und das «Gewusel» in den Strassen hautnah erleben. Bei der momentanen Sicherheitslage verfolgt er das Treiben in der Hauptstadt jeweils nur vom Auto aus. Der 62-jährige ehemalige Unternehmer engagiert sich als Freiwilliger in der Afghanistanhilfe. Das ist eine von Freiwilligen geführte Organisation mit einem Jahresbudget von etwa 900’000 Franken. Auf den Hinweis eines Kantonsschülers das sei ja «kein Betrag» entgegnet er munter: «Gegenrede: für dieses Geld kriegen sie in Afghanistan vier Schulhäuser». In der Aula der Kanti hielt Martin Hongler am Dienstagnachmittag einen Vortrag über die Arbeit der Afghanistanhilfe. Anhand vieler Fotos schilderte er sowohl das Leben in den rasch wachsenden, schwer zu regierenden Städten als auch in der einsamen, staubig-kargen und öden Berglandschaft. Die Afghanistanhilfe baut Schulen und Waisenhäuser und betreibt Krankenstationen in Zusammenarbeit mit der afghanischen «Shuhada Organization». Im Vortrag von Martin Hongler erfuhren die Schülerinnen und Schüler, dass es in Afghanistan das weltbeste Fladenbrot gibt, dass der Handyempfang erstaunlich gut ist und die afghanischen Fahrer auf Schotterpisten besser fahren als auf Teerbelag.

«Egoismus mit positivem Output»

Martin Hongler erwähnte auch, dass viele junge Männer nach Europa wollen und er ab und zu nach Tipps gefragt werde. Aber sein Traum sei, diese jungen Leute zu eigener wirtschaftlicher Tätigkeit im eigenen Land zu ermuntern – was leider schwierig umzusetzen sei. An Martin Honglers Schilderungen erkannten die Zuhörer, dass stets eine Prise Abenteuer seine Projektreisen nach Afghanistan begleitet. Den Kantischülerinnen und –schülern gab er mit auf den Weg: «Ich helfe, weil es mir Spass macht. Insofern ist sicher auch Egoismus dabei. Aber Egoismus mit positivem Output ist meiner Ansicht nach etwas Gutes».

Besuch im Asylheim

Nach so vielen Informationen für Augen und Ohren stand am Mittwoch der Besuch im Asylheim im ehemaligen Restaurant «Metropol» auf dem Programm. Die zwölf jungen Afghanen zeigten den anwesenden Schülern, Lehrern und weiteren Interessierten ihre Unterkunft und erzählten – auf Deutsch – vom Leben in Afghanistan. Dann servierten die jungen Männer ein selbst gekochtes Reisgericht. Einige Besucherinnen assen auf der Treppe sitzend, andere im Schneidersitz am Boden, denn es waren deutlich mehr Leute gekommen als Stühle vorhanden waren. «Das ist doch genau richtig so», freute sich Sarah Knecht, «es zeigt, dass unsere Schüler solche Projekte schätzen. Ich finde, Schule und soziales Engagement passen gut zusammen».

Mehr zur Afghanistan-Woche der Kantonsschule Baden

Infos zur Afghanistanhilfe 

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