09.03.2016

Die Kapitänin im Kirschbaum

Von Marie-Christine Andres Schürch

Energisch rüttelt der Wind an den Zweigen des wilden Kirschbaums. Hoch oben in seiner Krone schaukelt ein Haus, wogt hin und her wie ein Schiff. An der Reling steht die Kapitänin und bietet dem Märzsturm die Stirn. Denn sie ist gewiss: bald wird aus den knackenden Zweigen ein Kirschblütenmeer. Dann nämlich, wenn der Frühling kommt. Und mit ihm die Lust auf Aufbruch und Neuanfang.

Die Kapitänin heisst Gabrielle Schmid. In ihrem Baumhaus hoch über Niederweningen empfängt sie Menschen, die in stürmischen Lebensphasen Begleitung und Beratung suchen. Frühling und Aufbruch passen zusammen, findet sie. Wenn die Knospen aufbrechen und die jungen, zarten Stängel die Erde durchbrechen, verspürten viele Menschen das Bedürfnis, Veränderungen in ihrem Leben anzupacken.

Raum der Möglichkeiten
Die vielseitig kreativ Tätige hat Architektur und Innenarchitektur studiert, war als Designerin und Szenische Gestalterin tätig. Heute arbeitet sie als Erwachsenenbildnerin, Supervisorin, Beraterin, Gestalterin und Kreativitätstrainerin. Von ihrem Baumhaus aus schweift der Blick über das Grenzgebiet zwischen Surbtal und Zürcher Unterland am Fuss der Lägern. Diese Perspektive ist ungewohnt und symbolisiert gleichzeitig den weiten Raum und die frische Sicht, die zentral sind für Gabrielle Schmids Wirken. Wenn die Witterung es erlaubt, führt Gabrielle Schmid ihre Beratungsgespräche an diesem ganz speziellen Ort. Vor zwei Jahren mündete ihre Beratungstätigkeit in die Gründung von «Weitraum». In diesem «Weitraum für Bildung und Beratung» unterstützt sie mit ihrer reichen Erfahrung Menschen beim Finden neuer Ideen, von Wegen und Auswegen für berufliche und private Anliegen. Ihre Leitsätze lesen sich wie ein Gedicht:

zielstrebig schweifen
anders begreifen
umsichtig wagen
weiträumig wirken

Sie verraten, dass Gabrielle Schmid in ihrer Beratungstätigkeit einen ganz eigenen Ansatz verfolgt. So, wie das Gestalten und die Kreativität ihren Werdegang prägten, ist der Kern ihrer Beratungstätigkeit, das kreative Potenzial in einer Person zu wecken. «Problemlösen ist ein kreativer Prozess.», sagt die 49-Jährige mit Nachdruck.

Vergiss das Problem!
Speziell an Gabrielle Schmids Beratungsansatz ist, dass sie regelmässig mit nonverbalen Mitteln, Kunst und Gegenständen arbeitet. Es kommt häufig vor, dass ihre Klientinnen und Klienten etwas bauen, falten, zeichnen oder schreiben und so einen Weg beschreiten, der vom Problem wegführt. Um eine Lösung zu finden, müsse man das Problem nämlich zuerst einmal vergessen. Beim sogenannten «Dezentrieren» unterbricht Gabrielle Schmid das Beratungsgespräch, damit die Person während einer kurzen Pause eine kreative Herausforderung bewältigen kann. Der gestalterische Weg ist frei, jeder löst die Aufgabe auf seine Art. Anschliessend betrachten die Beraterin und ihr Klient das Werk genau. Auch dieser Schritt kommt aus dem Gestalterischen. Einen Schritt zurücktreten und neue Blickwinkel ausprobieren, das Objekt auf den Kopf stellen. Gabrielle Schmid stellt Fragen nach gestalterischen Entscheidungen: Was hat dich bewogen, das Objekt so zu platzieren?», oder: «wie bist du darauf gekommen, die Kante zu reissen? Dieses Gespräch führt den Leuten vor Augen, wie viele Entscheidungen sie innert kurzer Zeit getroffen haben. Sie erleben sich selber als kompetent und erkennen, dass sie ihrer Intuition vertrauen können.

«Ich kann das»
Mit dem Dezentrieren kommen gute Stimmung, Motivation und das Gefühl «Ich kann ja etwas» auf. Die Menschen entdecken, dass sie über Problemlösungskompetenz verfügen. Das alles verbessert die Rahmenbedingungen, um in einen guten, lösungsorientierten Prozess zu kommen. Nicht mehr ans Problem zu denken, gibt dem Unterbewusstsein Zeit zum Arbeiten. Denn man kann Inspiration nicht «machen», man muss sie geschehen lassen. Meist kommt die Inspiration bei einer Arbeit, die einen nicht völlig absorbiert, sondern bei einer alltäglichen Tätigkeit, bei der die Gedanken schweifen können. Häufig helfen auch Bewegung und frische Luft. Deshalb sei es ungünstig, wenn man sich in Stresssituationen genau diese Auszeiten nicht erlaube. Ebenfalls schade findet Gabrielle Schmid, dass Menschen so selten Hilfe in Anspruch nehmen, denn meist brauche es nur einen kleinen Anstoss. Manchmal reicht sogar eine unerwartete Frage, um einen Lösungsprozess in Gang zu bringen.

Mitten im Chaos
Wie ein solcher Prozess, der Weg von einer bekannten Ordnung hin zu einer noch ungewissen Neuordnung konkret aussieht, skizziert Gabrielle Schmid mit flinker Bewegung aufs Papier. Eine gerade Linie, die in ein wildes Gekritzel ausartet und daraufhin wieder in eine gerade Linie ausläuft. Die Zeichnerin deutet auf den Strich-Knäuel und sagt: «Hier herrscht Chaos. Aber in dieser Verwirrung liegt das grösste Potenzial, da drin sind alle Möglichkeiten enthalten.» Diesen Zustand zwischen «Nicht-Mehr» und «Noch-Nicht» gelte es auszuhalten, wenn man eine Veränderung angestossen habe. Ein Knackpunkt ist laut der Expertin, dass man aus Angst vor Veränderung zu lange im Alten verharrt: «Unsicherheit und Nichtwissen bremsen enorm. Deshalb ist Begeisterung so wichtig, sie gibt Energie, Veränderungen in Angriff zu nehmen.» Begeisterung für das Neue, aber auch der Leidensdruck durch das Alte könnten gleichermassen als Antrieb wirken, erklärt Gabrielle Schmid. Es könne aber auch passieren, dass mitten im Veränderungsprozess keine der Optionen anziehend genug erscheint. Im diesem Fall gehe sie meist auf die Ursprungsfrage zurück und wolle möglichst konkret erfahren, wie sich der neue Zustand anfühlen, was nachher anders sein soll: «Das Ziel muss spürbar werden.»

Ich konstruiere mein Bild von der Welt mit
Gabrielle Schmid kann verstehen, dass Menschen ein Bedürfnis nach etwas haben, das grösser ist als sie selber. Sie ist aber skeptisch gegenüber dem Religiösen. Ihrer Tätigkeit liegt ein konstruktivistisches Weltbild zugrunde: «Woran ich fest glaube, ist, dass jeder seine Umgebung gestalten kann.» Sie sei überzeugt, dass die Kraft, etwas zu verändern in jedem Menschen liege. Für ihre beraterische und gestalterische Arbeit sei es aber auch entscheidend, nicht alles bis ins Letzte ergründen zu wollen. Im künstlerischen Prozess kann man vieles nicht abschliessend klären. Zum Beispiel, woher eine Idee kommt. Aber wenn ein Objekt auf dem Tisch steht, kann man es beschreiben. Und kommt vom Objekt zum Wort. «Da bin ich dem Konstruktivismus verpflichtet: Mein Bild von der Welt konstruiere ich mit.», erklärt Gabrielle Schmid. «Es zeichnet das künstlerische Tun aus, dass man dabei ganz im Jetzt ist. Das ist nährend, das gibt Kraft.»

 

Horizont-Erweiterung im Baumhaus? www.gabrielleschmid.ch

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