06.04.2014

Die katholische Kirche der Schweiz braucht neue Formen

Von Horizonte Aargau

Angesichts des immer grösseren Mangels an Theologen in der Schweiz regt der Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts SPI in St. Gallen, Arnd Bünker, ein Umdenken in der katholischen Kirche der Schweiz an. Die Kirche muss sich eingestehen, dass sie nicht mehr flächendeckend für jede Pfarrei einen hauptamtlichen Seelsorger stellen kann. Sie soll vermehrt auf «Teams von Getauften» setzen, die von «Hauptamtlichen» begleitet werden. So könnte die Kirche vielleicht auch besser die Jugend für die Mitarbeit in den Pfarreien interessieren, meint Bünker im Interview.

In den vergangenen Jahren kamen viele Theologen aus Deutschland in die Schweiz, um den Mangel an Seelsorgern zu überbrücken. Wie sieht es heute aus?
Arnd Bünker: In Deutschland verzeichnen die Theologischen Fakultäten einen Zulauf. Das hat verschiedene Gründe. In Deutschland gibt es das Fach Religion, das als Schulfach obligatorisch angeboten wird. Für viele Lehramtskandidaten, also angehende Lehrer, ist das Fach Religion sehr attraktiv. Aber die Zahl derjenigen, die sich für einen Beruf innerhalb der katholischen Kirche entscheiden, ist sehr stark gesunken. In den 80er Jahren hatten viele Diözesen einen Überhang an Theologen, von denen viele in die Schweiz kamen. Heute können in Deutschland nur noch ein oder zwei Bistümer ihren Bedarf an Theologen aus eigener Kraft decken.

Wie sieht es in der Schweiz aus?
Die Zahl der Theologie-Studierenden ist in der Schweiz verglichen zu früher sehr niedrig. In den letzten Jahrzehnten bildete die Schweiz nie genug eigene Theologen aus, um die offenen Stellen zu besetzen. Jetzt wird es noch schwieriger, weil neben der niederen Zahl der Theologiestudierenden in einigen Bistümern die Seelsorger durchschnittlich ein hohes Alter haben. Die Stellen, die durch Pensionierungen frei werden, werden voraussichtlich nicht mehr alle besetzt werden können. Hier stehen die Bistümer vor der Herausforderung, die bestehenden Strukturen grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen.

Wann wird der Engpass in der Seelsorge kommen, der nicht mehr überbrückt werden kann?
Der Engpass hängt davon ab, ob man sich darauf fixiert, die bestehenden Strukturen fortzuführen. Die Kirche stösst dann auf einen Engpass, wenn sie sagt, es müsse alles so bleiben, wie es ist. Wir beobachten jedoch seit Jahrzehnten, dass wir nicht genug Personal haben. Wir müssen dies zum Anlass nehmen, die Strukturen kritischer anzusehen, die wir im Augenblick haben. Diese sind offensichtlich nicht so überzeugend, dass junge Menschen sagen: Ich habe Lust, Theologie zu studieren. In fast allen Bistümern zeichnet sich aber ab, dass sich diese beim Organisieren der Seelsorge bereits in einem grossen Strukturwandel befinden.

Was heisst das konkret? Werden vermehrt Psychologen eingesetzt?
Nein, denn dann hätten wir keinen Strukturwandel, sondern einen Personalwandel. Die Kirche hielte mit einer solchen Taktik lediglich an den Struktur fest und besetzte Stellen mit nur noch halb so gut passendem Personal. Die Struktur stimmt dann aber nur noch in der Optik. Wenn etwa ausländische Priester eingestellt werden, ist zwar die Feier der Sakramente gewährleistet. Viele andere Bereiche der Pfarreiarbeit können aber manchmal gar nicht mehr bedient werden, wenn die kulturellen oder sprachlichen Barrieren viel zu hoch sind. Der Einsatz ausländischer Priester kann die Kirche in der Schweiz zwar sehr bereichern – aber nicht als Lückenfüller für Strukturen, die aus eigener Kraft nicht mehr erhalten werden können.

Was heisst Strukturwandel?
Strukturwandel würde bedeuten, dass wir überlegen, wo es für hauptamtliche Stellen theologisches Personal braucht. Welche Aufgaben sind unverzichtbar, und wie viel Personal braucht es? Welche Aufgaben können von engagierten Freiwilligen oder anderen Berufsgruppen übernommen werden? Die Kirche muss sich eingestehen, dass sie bald nicht mehr flächendeckend für jede Pfarrei einen hauptamtlichen Seelsorgenden anstellen kann, also einen Priester, Diakon oder Laienseelsorger. Bei wenigen kleinen Pfarreien kann eine Person noch zwischen den Einsatzorten wechseln. Aber irgendwann sind wir bei 15 Pfarreien. Und dann geht es nicht mehr. Der Seelsorger sitzt praktisch nur noch im Auto. Rechtzeitig muss man darum schauen: Welche Aufgaben kann und soll das bestehende Personal leisten?

Welche Berufsgruppen können in der Kirche eingesetzt und bezahlt werden?
Ich würde nicht von Berufsgruppen sprechen, sondern von engagierten Getauften, die auf Freiwilligenbasis tätig sind. Das Leben einer Pfarrei wird heute schon vor allem von Freiwilligen sichergestellt. Die verbleibenden hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger beschränken sich hier darauf, Teams von Getauften zu begleiten, welche die Verantwortung für eine Pfarrei übernehmen. So haben die «Profis» noch Zeit für neue Projekte oder besondere Angebote. Dieses Modell des Einsatzes von Freiwilligen haben wir bereits im frankophonen «Jura-Pastoral» des Bistums Basel. Dort beobachten «Veilleurs», also Wächter, was in der Pfarrei geschieht, und achten darauf, wo Hilfe geleistet oder etwas in Gang gesetzt werden muss. Sie sind quasi die Inspiratoren der lokalen Kirche. Die Hauptamtlichen haben die Aufgabe, diese «Veilleurs» zu begleiten, zu berufen, auszubilden, einzusetzen.

Eine Änderung der aktuellen hierarchischen Form der Kirche von unten nach oben wäre nötig, um ein solches Gebilde in Funktion halten zu können…
Das, was diese «Veilleurs» leisten, ist kirchenrechtlich völlig unproblematisch. Jeder Getaufte kann einen Gottesdienst feiern, kirchliche Gemeinschaft aufbauen und sich karitativ engagieren. Es geht weniger um Hierarchie als um die Frage einer guten Begleitung der Engagierten in den neuen Seelsorgestrukturen. Das ist wichtig, denn die Freiwilligen haben keine theologische und pastorale Ausbildung. Sie werden lernen müssen, wo sie von ihrer Kompetenz her selbst etwas leisten können, und ab wann sie Unterstützung brauchen.

Es gibt bereits erste Klagen, dass man keine Theologen für die Sicherstellung der Seelsorge mehr findet. Wer soll einspringen?
Zurzeit finden wir noch welche. Es könnten mehr werden, wenn das Berufsprofil klarer wird. Im Augenblick wird dieses vor allem dadurch dominiert, dass man immer sagt: Wir haben zu wenig Personal. Das Festhalten an den alten Strukturen zeigt immer auf den Mangel. Das ist nicht attraktiv. Was hat heute ein junger Mensch zwischen 15 und 18 für ein Berufsbild vor sich? Die Aussichten sind nicht gut, wenn junge Menschen, die in der Kirche arbeiten möchten, Angst haben, in zwanzig Jahren allein zu sein. Möglicherweise werden sie sich aber in einem Team von Freiwilligen und Getauften wohl fühlen. Das Berufsbild innerhalb einer neuen Seelsorgestruktur wäre dann nicht mehr mit den Überforderungen von heute befrachtet.

Überforderungen?
Die von einer Volkskirche erwarteten Leistungen – etwa, dass der Seelsorger in jedem Verein Präses ist, was heisst, dass er als Hauptamtlicher die Kirche repräsentiert. Das entspricht noch der alten Struktur der Seelsorge, kann heute aber nicht mehr geleistet werden. Die Seelsorger können heute nicht mehr all das erbringen, was bisher in der Volkskirche der Fall war.

Muss die katholische Kirche auf niederer Basis selbständiger werden?
Die Kirche des Alltags kann von überzeugten Laien gestaltet werden. Die Professionalisierung der Seelsorge hat dazu beigetragen, dass man heute in der Kirche das Gefühl hat, dass Dinge, die jeder Gläubige kann, nur durch Professionelle geleistet werden können. Beten kann jeder. Dafür muss ich nicht Theologie studiert haben.

Was bedeutet das für die Schweiz?
Bislang konnte die Kirche mit Geld oder ausländischem Personal die Struktur so halten, wie sie war. Heute sieht man eher: Die Kirche muss sich auf Dauer gesehen selbst erhalten können. Es ist ein Zeichen einer nicht gesunden Kirchenstruktur, wenn sie nur über die Runden kommt, indem sie Personal aus dem Ausland rekrutiert. Man hält ein System aufrecht, das sich von innen heraus nicht erneuern kann. Jetzt sind wir in einer Situation, in der wir mehr noch als vor einigen Jahren gezwungen sind, das ehrlich anzusehen und neu zu gestalten.

Wie sieht es auf der Seite der Bischöfe, die in einer strengen Hierarchie eingebunden sind, für solche Änderungen aus? Sind diese bereit, auf die Laien zuzugehen, um mit ihnen mehr Verantwortung zu teilen?
Ich glaube, es ist für jeden Bischof in der Schweiz und weltweit selbstverständlich, dass die Laien zum Volk Gottes gehören und wir noch lernen müssen, auch in der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils besser zu verstehen, was ihre Aufgaben sind. Es ist nicht einfach die Übernahme von Aufgaben, die früher Hauptamtliche gemacht haben. Dann würde man wieder nur die Struktur verlängern und Freiwillige auf Posten setzen, die früher Hauptamtliche hatten.

Wie müsste heute ein Hirtenbrief aussehen, den ein Bischof schreibt?
Wichtig wäre, dass ein Bischof seinen Getauften signalisiert, dass er ihnen den Rücken stärkt, wenn sie versuchen, Schritte auf dem Weg zum Kirche-Sein zu gehen und Kirche gestalten wollen. Wichtig ist, dass die Schritte und Gehversuche der Freiwilligen nicht aus einer Kontrollangst angeschaut werden, sondern mit einem Vertrauensvorschuss. Georges Scherrer

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