24.07.2019

Ein Haus für Liturgie und Kirchenmusik

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Dieter Wagner entwickelte zusammen mit Andreas Hausermann die Idee, ein «Haus für Liturgie und Kirchenmusik» zu schaffen – wenn möglich ökumenisch und für die gesamte Deutschschweiz.
  • Die reformierte Liturgie- und Gesangbuchkonferenz hat eine Machbarkeitsstudie zu diesem Vorhaben in Auftrag gegeben. Im Frühling 2020 soll ein Ergebnis vorliegen.

 

Gut gelaunt kommt Dieter Wagner um die Ecke und steuert geradewegs zur Kaffeemaschine. Er strahlt den Besuch an und drückt den Knopf.

Nach wenigen Minuten Gespräch fällt einem unweigerlich der Song «MfG – mit freundlichen Grüssen» der «Fantastischen Vier» ein. Dieter Wagner reiht munter Abkürzung an Abkürzung: «In der LGBK gibt es die FKP. Als Leiter der KMSA…» Dieter Wagner muss lachen: «Ich mag ja diese Abkürzungen.»

Frag das «HALM»

Deshalb hat er für sein Herzensprojekt ebenfalls schon eine einprägsame Abkürzung parat: HALM. Das bedeutet «Haus für Liturgie und Kirchenmusik». Noch ist das Haus erst eine Idee. Doch Dieter Wagner, ein Tausendsassa in Sachen Kirchenmusik und bestens vernetzt, will dieser Idee zum Durchbruch verhelfen. Er umreisst, worum es geht:

Ökumenisch und für die ganze Deutschschweiz

«Ein Haus, ökumenisch und für die gesamte Deutschschweiz, in dem sich alles um Kirchenmusik dreht. Darin könnten Unterricht, Workshops, Tagungen oder Ausbildungssequenzen abgehalten werden.» Dabei will Dieter Wagner Kirchenmusik in ihrer ganzen Bandbreite verstanden wissen: Von Gospel bis Gregorianik, von Bach bis Blues hat alles Platz. Denkbar sei, für das HALM eine Kirche umzunutzen oder ein leerstehendes Pfarrhaus wiederzubeleben, erklärt Dieter Wagner. Dann könnte das Konzept so aufgehen, dass sich das Haus selber trägt – etwa durch die tage- und stundenweise Vermietung einzelner Räume. Wo das Haus dereinst stehen soll, ist noch völlig offen. Auch der Standortkanton ist nicht festgelegt.

Allein auf der Empore

Das L im HALM steht für Liturgie. Diese soll im Haus ebenfalls einen wichtigen Platz einnehmen. «Im Idealfall gibt es im geplanten Haus ein Miteinander von Liturgie und Musik», sagt Dieter Wagner. Der Kontakt zwischen Liturgieverantwortlichen und Musikern in der Ausbildung existiere heute noch kaum: An den Universitäten wird die Liturgie gelehrt, an den Musikhochschulen und Kirchenmusikschulen die Musik. In den Gottesdiensten sitzen die Kirchenmusiker meist alleine auf der Empore.» Weil im Studium der reformierten Theologie die Kirchenmusik einen verschwindend kleinen Platz einnimmt, fehlt oft das Wissen für diese wichtige Komponente einer liturgischen Feier.

Hoher Stellenwert der Musik bei den reformierten Landeskirchen

Bei der reformierten Landeskirche des Kantons Aargau leitet Dieter Wagner das Projekt «Musik in der Kirche». In dieser Funktion fördert er die Vielfalt und die Experimentierfreude in den reformierten Pfarreien des Kantons. Eine Ansprechperson für Kirchenmusik gebe es bei jeder grösseren, reformierten Landeskirche, weiss Dieter Wagner. Die katholische Seite ist in diesem Bereich anders strukturiert: Es gibt zwei Regionalkirchenmusiker im Bistum. Diese decken in einem 10- beziehungsweise 15-Prozent-Pensum vier bis fünf Bistumskantone ab. Das ergibt nur einige Minuten Arbeitszeit für eine einzelne Pfarrei.

Reise nach Mannheim als Auslöser

Seit 2015, also seit Dieter Wagner bei der Reformierten Landeskirche Aargau arbeitet, ist er auch in einer Untergruppierung der Liturgie-Gesangbuch-Konferenz (LGBK). Dort arbeitet er in der Fachkommission für Popularmusik (FKP) mit, die auch das Singbuch «Rise up PLUS» herausgibt.  Vorsitzender dieser FKP ist Andreas Hausermann, wie Dieter Wagner sagt, der «Mister Popularmusik» der Schweiz. Zusammen mit ihm besuchte Dieter Wagner die Pop-Akademie in Mannheim. Dort hörten die beiden vom Konzept der «kritischen Masse», das ihnen sofort einleuchtete. Eine kritische Masse bezeichnet im Rahmen der Spieltheorie den Schwellenwert an Anzahl Personen, der erreicht werden muss, damit ein System selbsttragend wird.

Kritische Masse

Übertragen auf die Pop-Akademie bedeutet das, dass ab einer gewissen Anzahl Studenten die Kreativität und die Qualität innerhalb der Institution zunehmen und diese weitere Studenten anzieht.

Dieter Wagner macht ein Beispiel: Meist erreicht heutzutage ein klassischer Chor allein die kritische Masse nicht, um konzertant auftreten zu können. Spannen aber zwei Chöre für ein Konzert zusammen, so haben sie zwei Aufführungsorte und doppelt so viele potenzielle Zuhörer. Gemeinsam ist man stark.

Auf der Heimfahrt von Mannheim sagten sich Dieter Wagner und Andreas Hausermann: «Mensch, hätten wir doch auch so ein Haus!»

Ehemaliges Kloster in Hildesheim als Vorbild

Ein Beispiel für ein solches Haus für Liturgie und Kirchenmusik steht im deutschen Hildesheim. Dort ist im ehemaligen Michaeliskloster das «Evangelische Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik» untergebracht.Kirchliche und weltliche Tagungen, Gruppenaufenthalte und Einzelbesucher sind willkommen. Das Institut versteht sich auch als Kompetenz- und Innovationszentrum, das neuen Gruppen den Zugang zu Kirchenmusik ermöglichen will. Es wird von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover finanziert.

Mehr Leute, mehr Kreativität, ein grössere Netzwerk

Um die kritische Masse zu erreichen, muss Dieter Wagner die Katholiken und die anderen Landeskirchen der Deutschschweiz für die Idee begeistern. «Wir haben uns mit verschiedenen Playern getroffen, um abzuklären, wie gross das Interesse ist. Wir waren überall willkommen und unsere Idee stiess auf breite Zustimmung.» Die bereits bestehenden Ausbildungsstätten für Kirchenmusik könnten, so Dieter Wagners Plan, in das HALM integriert werden. Heute gibt es kirchenmusikalische Ausbildungen an der Kirchenmusikschule Aargau, in St. Gallen, Solothurn und in Chur sowie an den Hochschulen in Luzern und Zürich. «Die Zusammenarbeit der einzelnen Kirchenmusikschulen würde sich auch finanziell lohnen. Aber sie hätte auch ganz andere Vorteile: Man lernt mehr Leute kennen, es entstehen mehr Ideen, mehr Verbindungen, ein grösseres Netzwerk.

Katholische Zurückhaltung

Die Vision der Initianten ist, dass das Haus für die gesamte Deutschschweiz ist – und nach Möglichkeit ökumenisch. Von katholischer Seite sei bis jetzt häufig die Rückfrage gekommen: «Was heisst Liturgie?» «Doch die Unterschiede bestehen vor allem im Kopf», findet Dieter Wagner. Ebenso die Vorurteile: «Das geht nicht, das ist katholisch…!» oder: «Das ist ja reformiert…!» Solche Abwehrreflexe beobachtet Dieter Wagner immer wieder.

Auf katholischer Seite stelle er Zögern fest, und es fehle ein Ansprechpartner, sagt Dieter Wagner. Er habe einigen katholischen Kollegen gegenüber das Projekt mündlich erwähnt. Wirklich Interesse bekundet habe bis jetzt noch niemand. Doch er sei überzeugt, dass es nun am besten sei, einfach mal zu «machen»: «Wenn das Projekt dann Form annimmt, springen weitere Organisationen auf.»

«Keine Kenntnis von diesem Projekt»

Erste Schritte sind jedenfalls eingeleitet: Die reformierte Liturgie- und Gesangbuchkonferenz hat von ihrer Abgeordnetenversammlung den Auftrag für eine Machbarkeitsstudie für das «Haus für Liturgie und Kirchenmusik» bekommen. Im Frühling 2020 soll das Ergebnis der Studie vorliegen. Auf der katholischen Seite ist es schwierig, jemanden zum Projekt zu befragen. Weder der Kirchenmusikverband des Bistums Basel noch der Schweizerische Katholische Dachverband für Kirchenmusik wissen auf Anfrage etwas davon.

Ein Ort, wo vieles wachsen kann

Dieter Wagner gerät ins Schwärmen, wenn er daran denkt, was in diesem Haus alles möglich wäre. Er hält Daumen und Zeigefinger fünf Zentimeter auseinander: «Hildesheim hat ein Programm, das ist so dick. Liturgie und Hymnologie, ein Gospelchorworkshop, Kindersingen… Es gäbe einen Ort, wo das wachsen kann. Ganz nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stark!»

Im Frühling 2020 wird die Studie zur Machbarkeit vorliegen. Dieter Wagner sagt überzeugt: «Ich bin sicher: das kommt!»

 

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