28.07.2014

Ein Strauss mit heilender Kraft

Von Marie-Christine Andres Schürch

Kloster und Kräuter: diese beiden Dinge gehören seit jeher zusammen. Kein Kloster, das nicht einen reich bestückten Kräutergarten pflegte. Jahrhunderte hindurch experimentierten Mönche und Nonnen mit Heilkräutern und sammelten so Erfahrungswissen über ihre Wirkung.

Zwischen verschiedenen Klöstern herrschte ein Austausch an Büchern, Präparaten und Samen. Bekanntes Beispiel für den so erworbenen Erfahrungsschatz ist das Werk der Benediktinerin Hildegard von Bingen, die im 11. Jahrhundert lebte.

Fast 900 Jahre nach Hildegards Tod erzählt eine andere Benediktinerin – quicklebendig – von den Kräutern und ihren Kräften. An einem Sommermorgen im Kloster Fahr. Schwester Beatrice balanciert auf dem Mäuerchen der grossen Kräuterspirale, zeigt auf eine Blüte, reibt an einem Blatt und atmet den Duft von Oregano und Eisenkraut ein: «Das ist eine Fülle und eine Pracht, einfach eine Freude.» Freude und Dankbarkeit über die blühenden Pflanzen mit ihren vielfältigen Heilwirkungen kommen an Mariä Himmelfahrt zum Ausdruck. Zum Hochfest am 15. August gehört seit Jahrhunderten der Brauch der Kräuterweihe, bei der im Gottesdienst Kräuter und Blumen gesegnet werden. Mit den bunten, duftenden Kräutersträussen ist Mariä Himmelfahrt ein Fest für alle Sinne.

Zu jedem Kraut eine Geschichte
Die Kräuterspirale im Kloster Fahr ist mit Steinen aus der Region aufgeschichtet und hat sieben Meter Durchmesser. Sie ist so ausgerichtet, dass es sowohl sonnige als auch halbschattige Plätze für die verschiedenen Kräuter gibt. Im unteren Teil der Spirale ist der Boden sehr nährstoffreich, je höher sie steigt, desto karger wird die Erde. Zuoberst wachsen Kräuter, die den ganzen Sommer über sehr viel Sonne, aber wenig Nahrung brauchen. Seit nun 40 Jahren ist der Garten im Kloster Fahr die Wirkungsstätte von Schwester Beatrice Beerli. Beim Rundgang um die Spirale weiss sie zu jedem Kraut eine Geschichte zu erzählen. Aus den pinkfarbenen Echinaceablüten stellt sie eine Tinktur her. Ein paar Tropfen davon stärken die Abwehrkräfte und wehren Erkältungen ab. Die Samen für diese Heilpflanzen hat sie von Doktor Vogel persönlich, dessen Tropfen mit der gleichen Wirkung wohlbekannt sind. Aus den Melissen wird Sirup, aus dem Eisenkraut wird Tee. Beim Erklären pflückt Schwester Beatrice hier ein Kraut, da einen Stengel und es entsteht, fast nebenbei, ein Kräuterstrauss.

Duftender Leichnam
Marias Leichnam habe einen Wohlgeruch nach Kräutern verströmt, so lautet eine der Legenden, welche die Verbindung von Mariä Himmelfahrt und dem Kräutersegen erklären könnten. Eine andere besagt, dass die Jünger in Marias Grab anstelle des Leichnams Blumen vorgefunden hätten. Neben diesen Legenden liesse sich die Entstehung der Traditionen und Bräuche zum Marienfest auch auf das Hohelied im Alten Testament zurückführen. Darin ist zu lesen, Maria sei als «Blume des Feldes und Lilie der Täler» verehrt worden. Dass das Fest Mariä Himmelfahrt seit Jahrhunderten mit der Segnung von Kräutern und Blumen verbunden ist, liegt für Schwester Beatrice auf der Hand. Schlicht erklärt sie: «So wie die Kräuter Heilkräfte haben, ist Maria für uns Menschen eine Hilfe.» Die duftenden Kräuter auf der Spirale haben für sie eine natürliche Verbindung zur Gottesmutter und ihrem Fest im Hochsommer: «Jetzt, während dieser Jahreszeit, steht hier alles in voller Blüte. So erstaunt es nicht, dass an Mariä Himmelfahrt die Blumen und Kräuter eine wichtige Rolle spielen.» Kräutersegnungen gab es ursprünglich nicht nur an Mariä Himmelfahrt. Da aber viele Kräuter Mitte August reif sind, blieb die Segnung am 15. August bis heute in vielen Pfarreien erhalten. Das Kräutersträusschen besteht je nach Region aus ganz verschiedenen Pflanzen, oft werden auch Blumen eingebunden.

Schutz vor drohenden Unwettern
Der Segen, der über die Sträusse gesprochen wird, verstärkt das Vertrauen in die heilende Wirkung der Kräuter. Noch vor hundert Jahren brauchten die Menschen in manchen Gegenden die gesegneten Kräutersträusse, um allerlei Unheil abzuwehren: Bei aufziehenden Gewittern verbrannte man einige Zweige im Ofen, um Haus und Hof vor Blitzschlag zu schützen. Schwester Beatrice erinnert sich, dass die Schwestern im Kloster Fahr bei drohendem Unwetter jeweils auf einem Blech im Garten geweihte Kräuter verbrannten.

Kräutersegnungen in Gottesdiensten
Seit etwa 15 Jahren binden die Benediktinerinnen im Kloster Fahr Kräutersträusse, segnen sie im Gottesdienst und verschenken sie an die Mitfeiernden. «Ich finde das schön und bin sicher, dass die Sträusschen den Menschen etwas bedeuten.», sagt Schwester Beatrice. Das Herstellen der Sträusse gebe zwar ein wenig Arbeit, aber das gemeinsame Kräuter-Binden sei auch etwas Schönes und Besinnliches. Ähnlich wie das Kloster Fahr halten es auch viele Pfarreien im Aargau, wo die Tradition des Kräutersegens in den letzten Jahren wieder an Bedeutung gewonnen hat. Gemeindemitglieder sammeln gemeinsam Kräuter im Feld, Schüler stellen im Gottesdienst verschiedene Kräuter und ihre Heilwirkung vor, der Frauenverein bindet Sträusse und Gottesdienstbesucher tragen Körbe mit Kräutern vor den Altar. Es gibt eine bunte Palette an Möglichkeiten, wie das traditionelle Brauchtum der Kräuterweihe im Kanton gepflegt und gestaltet wird.

 

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