14.06.2018

Fussball inmitten von Problemen

Von Andreas C. Müller

  • Wenn heute Abend Gastgeber Russland im Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien die Fussball-Weltmeisterschaft eröffnet, erhält das von Präsident Vladimir Putin geführte Land die Möglichkeit, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Im Schatten der sportlichen Euphorie stehen der Ukraine-Konflikt, aber auch die Situation der Menschen in Russland.
  • In Südrussland befinden sich sechs der zwölf WM-Austragungsorte. In diesem Gebiet amtet bereits seit vielen Jahren der gebürtige Deutsche Clemens Pickel als Bischof von Saratow. Er sagt: «Die Fussball-WM ist kein Anlass für die Menschen in Russland, auch wenn sie hoffen, dass der Anlass hilft, das Image von Russland in der westlichen Welt zu verbessern.»

Der in Deutschland geborene Clemens Pickel ist Vorsitzender der russischen Bischofskonferenz. Zudem ist er der Bischof von Saratow, beziehungsweise Südrussland. Clemens Pickels Diözese ist mit 1,4 Millionen Quadratkilometern rund 35 mal grösser als die Schweiz. Allerdings leben in seinem Bistum nur gerade 21 500 Katholiken (zum Vergleich: im Bistum Basel leben rund eine Million Katholiken).

«Für die meisten Russen ist ein WM-Ticket unerschwinglich»

Die Zahlen machen deutlich: Die Römisch-Katholische Kirche in Russland fristet ein Nischendasein. «Wir waren immer schon eine Minderheit», sagt Clemens Pickel und erinnert in diesem Zusammenhang an die Unterdrückung unter dem kommunistischen Sowjetregime. «Wir haben heute nicht, was wir uns nach dem Zusammenbruch der UdSSR erhofft haben. Viele dachten, es würde eine grössere kirchliche Wiedergeburt geben.»

Von der Fussball-Weltmeisterschaft hätten die Menschen in seiner Diözese im Grunde genommen nichts, meint der Bischof von Saratow, in dessen Diözese sich mit Kasan, Rostow, Samara, Saransk, Wolgograd und Sotschi gleich sechs von 12 Austragungsorten des alle vier Jahre wiederkehrenden Fussballevents befinden.

Gewiss: Dort, wo die WM-Spiele ausgetragen werden, profitierten die Menschen zwar von neu gebauten Strassen und anderen baulichen Massnahmen», so Clemens Pickel. Gleichwohl würden viele Leute während der Fussball-WM diese Städte verlassen: «Während der WM ist es dort voll und vieles ist abgesperrt», so der Bischof. «Hinzu kommt: WM-Tickets gibt’s nur nach einer umständlichen Prüfung durch die Sicherheitsbehörden. Und die meisten Russen können sich so ein Ticket ohnehin nicht leisten.» Das Fazit: «Die Fussball-WM ist kein Anlass für die Menschen vor Ort.»

«Der FC Basel und der FC Zürich schauen bei den Russen ab»

Dem widerspricht Marcel Helfenstein, langjähriger stellvertretender Chef der Fachgruppe Logistik der DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) und Inhaber des «Russen Shop» in der Schweiz: «Die Menschen in Russland freuen sich auf die Fussball-Weltmeisterschaft. Dass in den WM-Austragungsorten während der Spiele die Strassen gesperrt würden, sei ärgerlich, doch: Die Russen in den Städten sind sich Stau gewohnt und alle, die ein geregeltes Einkommen haben, können sich auch ein WM-Ticket leisten.» Auf die aufwendigen Sicherheitsüberprüfungen angesprochen, meint Marcel Helfenstein: «Personalisierte Eintrittskarten wollen ja auch der FC Basel und der FC Zürich einführen. Was soll daran schlecht sein?» Auf diese Art und Weise habe man Gewähr, allfällige Chaoten besser ausmachen zu können.

Dass man sich in Russland auf die Fussball-Weltmeisterschaft freut, will auch Clemens Pickel nicht von der Hand weisen und meint: «Die Menschen hoffen, dass sich Russland von einer positiven Seite zeigen kann. Viele glauben nämlich, dass gerade die Menschen im Westen das Gefühl haben, es sei in Russland alles schlecht», so Clemens Pickel.

«Auf dem Land gibt es kaum Arbeit, dafür vor allem Armut»

Aufgrund der Arbeit seines Seelsorge-Teams bleibt der Bischof von Südrussland jedoch dabei: «Die meisten Menschen in Russland haben nichts von dem teuren Grossanlass.» Die Kluft zwischen den paar wenigen Städten und dem Leben auf dem Lande sei zu eklatant, berichtet Clemens Pickel. «Auf dem Land gibt es kaum Arbeit.» Alkoholkonsum ist immer noch ein grosses Problem. «Und viele Menschen wissen einfach nicht mehr, wie man Kinder erzieht». Sowohl die Mütter als auch die Väter seien meist schwer belastet mit ihrer Situation und kämen nicht mehr auf die Idee, sich mit ihren Kindern ernsthaft auseinanderzusetzen.

Oft nicht weniger als 400 Kilometer liegen zwischen zwei Kirchgemeinden, wo jeweils 70 bis 120 Personen jede Woche den Gottesdienst besuchen. Alles in allem gehören zur Diözese Südrussland 70 Pfarreien, wovon die meisten nur einen vorbeifahrenden Priester zu Gesicht bekommen, welcher der Gemeinde mit dem Auto jede Woche einen Besuch abstattet und die Messe feiert. Nur gerade an 26 Orten ist ein Priester stationiert. «Dort kann Seelsorge und Jugendarbeit betrieben werden», erklärt Clemens Pickel. «Und die haben die Menschen vor Ort auch bitter nötig.»

Eskaliert der Ukraine-Konflikt nach der WM erneut?

In den säkularen Medien wurden im Vorfeld der Fussball-Weltmeisterschaft wiederholt auch der Ukraine-Konflikt und die Unterdrückung von Oppositionellen in Russland thematisiert. Ob er denn selbst auch Repression erlebe? Dazu äussert sich Clemens Pickel nur ungern. Das Politische will er lieber aussen vor lassen.

Christian Andres arbeitet zurzeit in Kiew: «In der Ukraine ist die Fussball-WM kein Thema. «Das liegt zunächst einmal daran, dass sich das ukrainische Nationalteam nicht für das Turnier qualifiziert hat. Darüber hinaus überträgt das staatliche Fernsehen die Spiele aus politischen Gründen nicht», so Andres. Aus politischer Sicht sorge die WM aber aus einem anderen Grund für Diskussionen im Land: Vladimir Putin habe davor gewarnt, dass eine Offensive der ukrainischen Armee in der Ostukraine während der Weltmeisterschaft «ernsthafte Konsequenzen» haben würde. In der Ukraine besteht daher die Befürchtung, Russland könnte irgendeinen Vorwand suchen, um im Anschluss an den sportlichen Wettbewerb hart zuzuschlagen. «Kurz nach den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 nahmen die bis heute andauernden Konflikte um die Krim und in der Ostukraine ihren Anfang», erinnert sich Christian Andres.

«Ukrainische Listen sind wie ein Todesurteil»

Und Anlässe zum Handeln, die sich instrumentalisieren liessen, gibt es genug, das bestätigt auch Marcel Helfenstein. Der gelernte Speditionskaufmann kennt die Situation in den von Russland besetzten Gebieten. Unter anderem hat er für die DEZA Hilfskonvois nach Donezk organisiert und begleitet. «Die Schwester von einer Kollegin meiner Frau – übrigens eine Ukrainerin – wohnt mit ihren Eltern gerade an der Front. Und sie berichtet, dass da regelmässig noch Granaten fliegen.» Eine Seite beginne jeweils, die andere feuere zurück.

Der ehemalige Chef der Fachgruppe sich allerdings an der seiner Ansicht nach einseitigen Sicht des Westens auf die Verhältnisse. «Die ukrainische Regierung hat die Krise mitverschuldet, indem sie einerseits die Rechte von Minderheiten in den Grenzgebieten missachtete und im Zuge des Maidan nach der Flucht von Wiktor Janukowytsch trotz gegenteiliger Vereinbarung dessen Partei von den Neuwahlen ausschloss», sagt er. Europa und den Vereinigten Staaten habe das in die Hände gespielt und Russland hätte dann begonnen, aktiv Separatisten in der Ostukraine zu unterstützen. Allerdings führe die Ukraine Listen, auf welchen sogenannte prorussische Aktivisten öffentlich denunziert werden. Das komme für diese Personen einem Todesurteil gleich. Solcherlei ignoriere die westliche Berichterstattung. Ebenso auch, dass die ukrainischen Kämpfer meist von Oligarchen bezahlt würden. «Die Ukraine ist bankrott, die Kämpfer an der Front werden privatfinanziert.»

«Die Wirtschaft ist am Boden»

Lucia Wicki-Rensch ist Informationsbeauftragte bei «Kirche in Not», dem kirchlichen Hilfswerk, das auch Bischof Clemens Pickel finanziell unterstützt – mit Geld, damit die Priester mit Fahrzeugen regelmässig die weit verstreuten Kirchgemeinden besuchen können oder Kinderzentren unterhalten können, in denen Kinder sich mit den Betreuern nach der Schule eine warme Mahlzeit zubereiten und Unterstützung bei den Hausaufgaben erhalten.

Lucia Wicki-Rensch hat nicht nur Kontakte zu Geistlichen, die in den umkämpften Gebieten in der Ostukraine sowie auf der besetzten Halbinsel Krim im Einsatz stehen, sie reiste auch wiederholt in jene Gegenden, um sich selbst ein Bild zu machen. Zum Thema Repression nennt sie Beispiele: «Das Bischofshaus in Donetsk wurde am Anfang des Konfliktes beschlagnahmt.» Zur Situation der Menschen in der Ostukraine und auf der Krim sagt Lucia Wicki-Rensch weiter: «Viele verlassen ihre Heimatorte. Die Preise steigen ständig, und die ökonomische Krise ist groß. Auf der Krim lebten viele Menschen von Tourismus, jetzt gibt es das nicht mehr.» Ein großes Problem sei das Gefühl der Heimatlosigkeit der Menschen. Zudem befänden sich Donetsk und Lugansk weiterhin im Krieg.

«Hohe Selbstmordrate in der Bevölkerung»

«Die pastorale Seelsorge der Menschen dort ist sehr wichtig», rechtfertigt Lucia Wicki-Rensch das Engagement ihres Hilfswerks. «Nach vier Jahren Konflikt machen sich die psychischen Probleme bemerkbar; auffallend viele Menschen begehen Selbstmord.»
Ein weiteres Problem sei, dass viele Familien auseinander gerissen wurden. Einige gingen nach Russland, andere in die Ukraine.»

Marcel Helfenstein bestätigt diese Eindrücke und meint: «Dort, wo keine Granaten mehr fliegen, liegt die Wirtschaft am Boden. Es gebe keine funktionierenden staatlichen Strukturen mehr. «Sie sind zwar noch existent, funktionieren aber nicht mehr. Beamte haben seit Jahren keinen Lohn mehr gesehen, weiss der ehemalige DEZA-Mitarbeiter.

Trotz all dieser Probleme feierte Russland sich erneut selbst: nach Olympischen Spielen, der Eishockey-Weltmeisterschaft folgt nun König Fussball und sorgt dafür, dass in den folgenden vier Wochen Armut, Kriegs- und Flüchtlingselend ins Abseits gedrängt werden.

 

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