05.04.2018

Jugendliche beschäftigen sich mit Extremismus

Von Andreas C. Müller

  • Gestern fand an der Neuen Kantonsschule Aarau zum ersten Mal ein Projekthalbtag statt, zu dem die Schülerinnen und Schüler der Ergänzungs- und Freifächer Religion aller Aargauer Kantonsschulen eingeladen waren. Thema war der Umgang mit Extremismus und Radikalismus.
  • Der Projekthalbtag in Aarau wurde gestaltet von bekannten Schweizer Persönlichkeiten wie beispielsweise dem streitbaren Basler Soziologen Ueli Mäder. Dieser bezeichnete den finanzgetriebenen Liberalismus als prägenden Extremismus der Gegenwart in der Schweiz
  • Eingeladen zum Projekthalbtag hatte die Aargauer Konferenz der Religionen, der neben den Aargauer Landeskirchen auch die israelitische Kultusgemeinde Baden und der Verband Aargauer Muslime (VAM) angehört.

 

«Der schnelle soziale Wandel von heute verunsichert», erklärte der Soziologe Ueli Mäder vor gut 90 Jugendlichen, die aus dem ganzen Kanton zum Projekthalbtag zum Thema Extremismus an der Neuen Kantonsschule Aarau zusammengekommen waren. Sogar Schweizer Fernsehen SRF war zugegen und filmte für einen kurzen Nachrichtenbeitrag. Der emeritierte Basler Soziologieprofessor war fürs Einführungsreferat geladen und forderte die Jugendlichen auf, der Verunsicherung standzuhalten anstelle des einfachen Wegs, sich mit populistischen Strömungen zu identifizieren.

«Wenn wir die Ellbogen ausfahren, haben wir Platz»

Die Ursache für die aktuelle Verunsicherung ortete Ueli Mäder in einem «stark finanzgetriebenen Liberalismus», der überdies sehr konkurrenzbetont sei. «Unser Bild von erfolgreicher Konfliktbewältigung beruht darauf, dass wir lernen: Wenn wir die Ellbogen ausfahren, haben wir schnell mehr Platz – auf Kosten anderer. Das sollte man schon hinterfragen.»

Beim Versuch, das Wesen des Extremismus zu erklären, schlug Ueli Mäder einen biografischen Bogen von der eigenen Radikalisierungserfahrung in der 1968er-Zeit bis hin zum «finanzgetriebenen Liberalismus» der Gegenwart. Dieser verkörpere «etwas Extremes, das wir gern dem Islamismus zuschreiben». Das Geld sei das Wichtigste geworden. Aber das Verständnis, dass wir alle davon profitieren sollten, «ist seit Ende der 1980er-Jahre auf der Strecke geblieben. Wie viel wert die Arbeit ist, definiert heute der Markt.»

Eingeladen zum Projekthalbtag in Aarau hatte die Aargauer Konferenz der Religionen, der neben den Aargauer Landeskirchen auch die israelitische Kultusgemeinde Baden und der Verband Aargauer Muslime (VAM) angehören. «Obwohl alle Religionen sich die friedliche Koexistenz auf die Fahnen geschrieben haben, gibt es Menschen, die im Namen Gottes töten», erklärte Luc Humbel in seinem Grusswort den Beweggrund für die Einladung. Extremismus sei jedoch nicht zwingend immer nur religiös motiviert, so der Kirchenratspräsident der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau. Häufig radikalisierten sich Menschen, die sich nicht als Teil der Gesellschaft fühlten.

Faszination fürs Klosterleben

Für die Umsetzung und Moderation des Projekthalbtags engagierten sich die beiden kantonalen Beauftragten für Religionsunterricht an den Kantonsschulen Baden und Aarau der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau, Benjamin Ruch und Martin Zürcher. Nach dem einführenden Referat des Basler Soziologen vertieften verschiedene geladene Gäste im Plenum das Thema. Darunter Simon Küffer alias Rapper Tommy Vercetti, Anja Conzett, Reporterin der unlängst lancierten Online-Publikation «Republik», Tugba Schussmann, Soziokulturelle Animatorin, Schwester Iniga, langjährige Gefängnisseelsorgerin in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg und C.R. Bangoon (Name von der Redaktion geändert), der während einigen Jahren Mitglied einer radikal-religiösen Gruppe war.

Besonders faszinierte die Jugendlichen Schwester Inigas Weg. Konkret die Möglichkeit, sich der Welt entziehen zu können. «Bei uns ist immer so viel los. Im Kloster kann man sich dem widmen, was einen wirklich interessiert», äusserte eine Schülerin ihre idealisierte Vorstellung vom Klosterleben. Ein anderer Jugendlicher erklärte, er könne gut nachvollziehen, dass Menschen ins Kloster gehen: «Weil du da Entscheidungen abgegeben kannst. Wir können heute alles machen, haben kaum noch Richtlinien – das kann auch überfordern.» «Ist das Klosterleben denn eine radikale Lebensform?», hakte Moderator Benjamin Ruch nach. «Heute tritt ja niemand mehr ins Kloster ein», gab die Baldegger Franziskanerin lakonisch zur Antwort und ergänzte dann: «Schon zu meiner Zeit war aber der Klostereintritt ein radikaler Schritt».

Analyse von Extremisten in Workshops

In verschiedenen Workshops hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Podiums in kleinen Gruppen das Thema des Projekttages zu vertiefen. Reporterin Anja Conzett las den Jugendlichen einen ihrer Texte vor, in welchem Mitglieder des «Ku-Klux-Klans» zu Wort kamen und erörterte anhand dieser Beispiele, was denn die beschriebenen Menschen zu Extremisten mache. Die Schülerinnen und Schüler vermochten rasch wesentliche Merkmale wie beispielsweise eindimensionales, widersprüchliches Rechtsempfinden oder mangelnde Reflexionsfähigkeit zu benennen.

Ob es denn richtig sei, wenn Journalisten Extremisten zu Wort kommen lassen, wollte Anja Conzett weiter von den Jugendlichen wissen. «Ja, das hilft uns, diese Menschen zu verstehen», lautete die einhellige Antwort der Anwesenden.

«Im Internet gibt es viel Extremismus»

Die Jugendlichen zeigten sich im Grossen und Ganzen zufrieden mit dem Angebot. Insbesondere Ueli Mäders mit Anekdoten angereichertes Referat hatte es den Schülerinnen und Schülern angetan. «Ich habe schon viele Vorträge gehört und bin oft abgeschweift. Bei Herrn Mäder nicht», erklärte beispielsweise Mia Stauffacher aus Aarau gegenüber Horizonte. «Man merkt, dass er viele Menschen getroffen hat», ergänzte Thimea Mollet, ebenfalls aus Aarau.

Auf die Frage, wo die Jugendlichen denn selbst Extremismus erlebt hätten, blieben viele eine Antwort schuldig. «In der Schweiz gibt es wenig Extremismus», meinte der Schüler Tim Rihner. Im Internet hingegen finde man viel davon, je nachdem welchen Social Media-Kanälen man folge.

Und wo erleben sich die Jugendlichen selbst als extrem? Ein Schülerin nannte den radikalen Verzicht auf Fleischkonsum als Folge eines Gewissensentscheids, eine andere ihr feministisches Gedankengut. Radikal oder extrem zu sein, müsse jedoch nicht zwingend etwas Negatives bedeuten, folgerten die meisten Jugendlichen. Im Übrigen sei es schwer zu definieren, wo denn Radikalismus beginne, meinte Nadine Baradun aus Wohlen. Man müsse das auch in Relation zu dem sehen, was als normal gelte. «Wenn ich meine Kirchgemeinde anschaue, dann sind die Normalos diejenigen, welche Kirchensteuern zahlen, aber nie einen Gottesdienst besuchen. Die Radikalen wären dann jene, die regelmässig im Gottesdienst sitzen».

 

 

 

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Abonnieren Sie unseren Newsletter. Er erscheint alternierend zur Printausgabe alle zwei Wochen – immer mit den aktuellsten Horizonte-Geschichten und oftmals spannenden Verlosungen.