03.05.2018

Flucht nachempfinden: Eine interaktive Ausstellung

Von Andreas C. Müller

  • Nach 2015 ist dieses Jahr der bekannte Fluchttruck von Missio wieder für eine Woche in der Schweiz. Der Lastwagen ermöglicht im Rahmen einer interaktiven Simulation das Nacherleben von Flüchtlingsschicksalen.
  • Noch heute Donnerstag macht der Fluchttruck Station in Aarau. Am Nachmittag zwischen 14 und 17 Uhr steht er für die Öffentlichkeit offen. Darüber hinaus gibt es geschlossene Gruppenführungen für Kantonsschulklassen und Firmgruppen mit vertiefenden Ateliers.

 

Die zwanzigjährige Kantonsschülerin Charlotte aus Seon und ihre Kollegin haben in einer Kapelle irgendwo im Kongo Unterschlupf vor heranstürmenden Milizen gefunden. Es sind Schüsse zu hören. Via Bildschirm warnt ein Einheimischer vor den anrückenden Kämpfern. Die beiden jungen Frauen packen ihre nötigsten Sachen für die Flucht: Pass, Adressbuch, Messer, Zeugnisse und ein paar wenige Klamotten. Dann besteigen die beiden einen Bus, der in Richtung Nairobi fährt. Die Fahrt führt über holprige Strassen, vorbei an brennenden Häusern. In Nairobi kommen die beiden bei einer Tante unter und müssen sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen.

Acht Avatare stehen zur Auswahl – alles wahre Geschichten

Zum Glück ist alles nur eine Animation. Im Fluchttruck des christlichen Hilfswerks Missio, der diesen Mittwoch und Donnerstag auf dem Aarauer Bahnhofplatz steht, hat man die Möglichkeit, im Rahmen eines interaktiven Parcours in die Person eines Flüchtlings zu schlüpfen. Am Beispiel von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Ostkongo werden die Besucherinnen und Besucher für die Ausnahmesituation Flucht sensibilisiert.

«Das Ganze startet auf einem Markt im Kongo – die Welt ist noch in Ordnung», erklärt Koordinatorin Livia Schnyder. Die Besucherinnen und Besucher können aus acht Personen einen Avatar wählen, in dessen Rolle sie schlüpfen. Charlotte wählt die 28-jährige Studentin Christelle. Diese studiert Medizin und steht kurz vor dem Examen. Das Geld für ihren Lebensunterhalt verdient sich Christelle mit Nachtwachen im Krankenhaus. «Diese Wahl war für mich naheliegend, denn ich bin ja jetzt auch bald Studentin. Die Situation ist mir somit ein Stück nahe», erklärt die Schülerin, die im Sommer ihre Maturaprüfungen ablegt.

Nachfühlen, was sich nicht wirklich begreifen lässt

«Im zweiten Raum wird es brenzlig», erklärt Livia Schnyder. «Milizen greifen das Dorf an, in welchem Christelle wohnt. Die Menschen müssen flüchten». Zuerst mit dem Bus, hernach zu Fuss – bis über die Landesgrenze. Die aufbereiteten Schicksale für die Besucherinnen und Besucher des Trucks vermitteln auf anschauliche Weise, was Flucht bedeutet. «Und sie beruhen auf wahren Begebenheiten», betont Livia Schnyder. «Das ist mit viel Liebe gemacht», urteilt die Kantonsschülerin Charlotte im Anschluss an den Rundgang. «Man kann mitfühlen, was Flucht bedeutet, auch wenn wir wohl nie wirklich begreifen werden, was das heisst.»

2012 wurde der Fluchttruck in Deutschland konzipiert, 2015 kam er zum ersten Mal in die Schweiz. «Das Angebot stiess auf reges Interesse – auch in der Schweiz», erinnert sich Livia Schnyder von Missio Schweiz. Gerade Pfarreien und Schulen bekundeten grosses Interesse am Angebot «Mittlerweile touren in Deutschland zwei Trucks», so Livia Schnyder. Den Truck nochmals in die Schweiz zu bekommen, sei terminlich nicht einfach gewesen. Glücklicherweise sei es gelungen. In der ersten Maiwoche dieses Jahres steuert er unter anderem Fribourg, Interlaken und Aarau an.

Römisch-Katholische Landeskirche holte Truck in den Aargau

Im Aargau hat sich die Römisch-Katholische Landeskirche um das Angebot bemüht. «Die Initiative ging von Claudia Nothelfer von der Fachstelle Bildung und Propstei aus», erklärt Susanne Muth von der Fachstelle für Jugend und junge Erwachsene. «Ich habe dann bei unseren Jugendarbeitern und den Beauftragten für kirchliche Aufgaben an Kantonsschulen nachgefragt, ob sie interessiert seien. Die Rückmeldungen waren positiv. Der Truck habe auch super ins Projekt «Fremdsein» gepasst, freut sich Susanne Mut. Die Römisch-Katholische Landeskirche Aargau will im Rahmen ihres Legislaturziels «Fremdsein» nämlich für den Umgang mit Fremden, aber auch für die eigene Haltung dem Fremden gegenüber sensibilisieren.

An jenem Mittwochnachmittag kommen drei Kantonsschulklassen mit Ergänzungsfach Religion von der Alten Kantonsschule Aargau zum Fluchttruck. Dort findet für die Jugendgruppen auch ein vertiefendes Atelier statt. Dieses leitet Janson Bulambo von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Der gebürtige Kongolese musste einst selber flüchten und ist heute Experte für kongolesische Politik. «Ich erkläre den Jugendlichen, warum Menschen flüchten, was mit ihnen hier passiert und was es mit der Situation im Kongo auf sich hat.»

«Flüchtlinge sind keine Gorillas aus dem Dschungel»

Janson Bulambo weiss die Jugendlichen zu packen. «Ich möchte Flüchtlingen ein Gesicht geben. Das sind keine Gorillas, die aus dem Dschungel ausgebrochen sind, sondern Menschen wie wir.» Beeindruckend sind auch die Einblicke in kongolesische Verhältnisse, die Janson Bulambo anhand von Bildern gewährt. Da sind einerseits Koffer voller Geld von korrupten Beamten zu sehen, dann ein Fischmarkt mit vergammelter Ware und Strassen, die völlig im Morast versinken. «Diese Strassen hätten vor ein paar Jahren für 10 Milliarden Dollar repariert werden sollen», erklärt der Kongolese. «Das ist nicht passiert. Schuld ist die Korruption. Hohe Beamte streichen den Löwenanteil des ihnen zur Verfügung stehenden Budgets ein und verteilen einen Teil davon an ihre Protegés». Allein der Vizepräsident der Wahlkommission habe von 25 Millionen Dollar gute 20 Millionen einbehalten.

Oft gebe es Konflikte zwischen lokalen Beamten und Regionalgouverneuren. Erstere halten sich oft eigene Soldaten und es kommt regelmässig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, unter denen die Bevölkerung leidet.

Die umliegenden Restaurants spiegeln unsere Vorbehalte

Beim Fluchttruck empfängt derweil die freiwillige Mitarbeiterin Cécile Wittensöldner die nächsten Jugendlichen an einem Tisch. «Überlegt euch mal, was Heimat, was Gastfreundschaft und was Flucht bedeutet», versucht sie die Jugendlichen auf den Rundgang im Truck einzustimmen. Der Tisch, an dem die Jugendlichen sich Notizen machen, hat das benachbarte asiatische Restaurant spontan zur Verfügung gestellt. Das Restaurant des angrenzenden Hotels mochte hierfür nicht Hand bieten. Eine bezeichnende Situation für den Umgang mit Fremden bei uns, wie er im Fluchttruck im letzten Raum thematisiert wird: Diffuse Ängste und abwartende, beobachtende Zurückhaltung, ohne sich zu involvieren. Der Fluchttruck versucht, solche Muster aufzubrechen, indem wir die Gelegenheit erhalten, einmal in die Situation von Betroffenen zu schlüpfen.

 

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