22.10.2015

Gelassenheit und Altersskepsis

Von Christa Amstutz

Theologieprofessor Ralph Kunz beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Thema Religion und Religiosität im Alter. Religionsgerontologie heisst sein Fachgebiet. Im Interview erklärt er, wie sich der Glaube mit dem Alter verändert.

Ralph Kunz, Sie forschen zum Thema Religion im Alter. Welche Rolle spielt der Glaube im Alter? Verändert sich seine Bedeutung?
Ralph Kunz: Zuerst muss man das Alter genauer definieren, da sich hier in den letzten Jahrzehnten einiges verändert hat. Die Menschen werden heute im Durchschnitt immer älter. Man unterscheidet zwischen dem dritten und dem vierten Alter, zwischen jungen und alten Alten. Für einen «jungen» 65-Jährigen ist der Glaube in der Regel genauso wichtig oder unwichtig, wie er es zuvor schon war. Er bezeichnet sich selber auch nicht als alt und fühlt sich kaum angesprochen durch die sogenannte Altersarbeit der Kirchen. Religiöse Themen werden ab 70, 75 Jahren interessanter.

Warum? Was geschieht da?
Im höheren Alter zeigt sich ein deutlicher Anstieg von Religiosität. Zugleich aber offenbart sich hier eine der Schwächen aller Untersuchungen im Bereich Alter. Denn: Bei den über 75-Jährigen handelt es sich um Menschen, die in den 1940er-Jahren sozialisiert wurden, als die Kirche also selbstverständlich zum Leben dazugehörte. Allerdings gibt es eine Grundtendenz, die vielfach belegt ist: existenzielle Grenzerfahrungen machen sensibel für spirituelle Fragen.

Inwiefern?
Erschütternde Erfahrungen werfen Sinnfragen auf. Das ist nicht altersspezifisch und kann in jeder Lebensphase geschehen: die Geburt eines Kindes, eine Scheidung, Krankheit, Behinderung, der Verlust eines geliebten Menschen. Im hohen Alter aber häufen sich diese Erfahrungen von Beschränkung, Verlust, Bedürftigkeit. Das erhöht die Bereitschaft, sich vertieft mit Sinn- und Glaubensfragen zu befassen. Gerotranszendenz nennt der dänisch-schwedische Gerontologe Lars Tornstam diesen Prozess der Spiritualisierung.

Hat das einen Einfluss auf das Verhältnis zur Religionsgemeinschaft, der man angehört?
Ja. Gerotranszendenz geht oft einher mit Gelassenheit und Altersskepsis. Dogmen werden hinterfragt, Irritationen verschärfen sich. Der Glaube wird individueller, mündiger, selbstverantworteter. Das hat auch damit zu tun, dass man im hohen Alter Zeit zum Nachdenken hat. Man steckt nicht mehr im Alltagsbetrieb, muss nicht mehr ständig produzieren, steht nicht mehr unter Zeitdruck.

Man wird altersweise?
Man kann es werden. Weisheit ist die Wissensform des Alters. Sie baut auf Langsamkeit auf, auf persönliche Erfahrungen und nicht auf theoretische und spekulative Konzepte.

Sie haben im Nationalen Forschungsprojekts zu «Religion, Gesellschaft und Staat» an einem Teilprojekt zum Alter mitgearbeitet. Worum ging es?
Um eine qualitative Studie unter Bewohnerinnen und Bewohnern eines Altersheims – eine jüdische, fünf katholische und sechs protestantische Personen. Wir gingen der Frage nach, ob sich Religion als potenzielle Ressource auf das subjektive Wohlbefinden im Alter auswirkt.

Was haben Sie herausgefunden?
Das eindrücklichste Ergebnis war: Die meisten Befragten sind trotz Pflegebedürftigkeit erstaunlich glücklich. Sie nehmen die Pflege als etwas wahr, das ihnen guttut. Die verbreitete Schreckensvorstellung vom Dahinsiechen in Abhängigkeit scheint vor allem die Angst von Menschen im «besten» Alter zu sein.

Und was spielt die Religion dabei für eine Rolle?
Generell ist durch zahlreiche Untersuchungen belegt: Religiöse Menschen sind im Schnitt zufriedener; sie werden leichter fertig mit gewissen Schwierigkeiten, sind eher bereit, Hilfe anzunehmen. Intensiv praktizierter Glaube hilft offensichtlich, die vorhandenen physischen, psychischen, kulturellen und sozialen Ressourcen gut zu managen und so Belastungen besser auszuhalten. Das heisst nicht, dass man immer glücklich ist. Religiosität kann auch zur Trauer helfen, sie sogar verstärken. Umgekehrt kann in schwierigen Situationen das Gottvertrauen wachsen.

Gerontologie als Wissenschaft vom Alter boomt. Sie befassen sich mit Religionsgerontologie. Was ist das?
Religionsbezogene Gerontologie ist eine Forschungsperspektive, die unterschiedliche Disziplinen auf ein Thema hin bündelt: die Bedeutung der Religiosität für das Altern und das Alter. Um dieser auf den Grund zu kommen, befassen wir uns eigentlich mit allen Fragen der Gerontologie.

Wer heute sehr alt ist, ist mehrheitlich noch religiös beheimatet. Die Religionsgerontologie tappt aber letztlich im Dunkeln, was die Zukunft angeht, wie Sie selber bemerkt haben.
Eine aktuelle Studie, die im Auftrag der evangelischen Kirchen in Deutschland unter 60- bis 69-Jährigen durchgeführt wurde, spiegelt die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung: Säkularisierung, Abkehr von religiösen Institutionen. Das heisst aber nicht, dass die Menschen heute weniger spirituell sind.

Nebst vielen Konfessionslosen werden dereinst auch Musliminnen und Hindus in Altersheimen leben. Was bedeutet das für die Seelsorge?
Alle Religionen, die hier stark vertreten sind, müssten eigentlich die nötigen Mittel für institutionelle Seelsorge haben; das heisst für die Seelsorge in Gefängnissen, Spitälern, Alters- und Pflegeheimen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die öffentlich-rechtliche Anerkennung. Dies wird, denke ich, für die grosse muslimische Gemeinschaft die Zukunft sein. Bis dahin gilt es aber noch einige Hürden zu nehmen, vor allem auch innerhalb der Religionsgemeinschaft.

Spiritual Care ist in aller Munde, sie ist religionsungebunden. Könnte sie nicht die Seelsorge der Zukunft sein, in einer säkularisierten und zugleich multireligiösen Gesellschaft?
Nein, das sehe ich anders. Spiritual Care ist ein Segen. Sie hat den ganzen Menschen im Auge – körperlich, psychisch, sozial, spirituell. Dass sich diese ganzheitliche Haltung in Spitälern und Altersheimen, bei Ärzten und Pflegepersonen, immer mehr durchsetzt, ist sehr wünschenswert. Dennoch soll Spiritual Care nicht die Seelsorge ersetzen.

Warum?
Genauso wie es in der Pflege Fingerspitzengefühl braucht im Umgang mit körperlicher Distanz und Nähe, braucht es geistliches Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Seele. Dazu ist eine vertiefte Ausbildung nötig. Das Bedürfnis nach Seelsorge misst sich nicht an Mitgliederzahlen von Religionsgemeinschaften, sondern am Wunsch nach Spiritualität. Die Seelsorge steht für klare Werte, das wird sehr geschätzt, auch von nicht gläubigen oder andersgläubigen Menschen. Im Fall der christlichen Seelsorge sind diese Werte Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Gnade.

 

Dossier zum Thema «Religion und Alter»
Lesen Sie nächste Woche mehr zum Thema «Religion und Alter»: In der Print-Ausgabe des Aargauer Pfarrblatts Horizonte, die am Donnerstag, 29. Oktober 2015 erscheint, liegt das «Dossier zur Woche der Religionen» bei. Es zeigt verschiedenste Aspekte des Themas «Religion und Alter» aus interreligiöser Perspektive.

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