10.03.2016

Glaube lebt nicht vom Kopf allein

Von Marie-Christine Andres Schürch

Krisen und Veränderungen, Krankheit oder Verlusterlebnisse: Es gibt Situationen, die Menschen nicht selber bewältigen wollen und können. Claudia Mennen, Claudia Nothelfer und Susanne Andrea Birke leiten das Bildungs- und Beratungsangebot «Wege zum Leben» der Fachstelle Bildung und Propstei der Aargauer Landeskirche. Was unterscheidet dieses in katholischen Kontext eingebettete Angebot von den vielen anderen Begleitungsmöglichkeiten? Welche Rolle spielen Gott und die Religion bei der Bewältigung von Krisen? Im Interview erklären die drei vielseitigen Theologinnen, was die Wegbegleitung auszeichnet, wen sie anspricht und warum der Körper eine wichtige Rolle spielt.

 

Seit wann besteht das Angebot der Wegbegleitung und wie entwickelt es sich?

Claudia Mennen: Begonnen haben die Wege zum Leben mit der Kontemplation, die Claudia Nothelfer angeboten hat. Ich wusste schon da, dass ich in diesem Bildungshaus einen spirituellen Schwerpunkt setzen möchte, denn die Menschen möchten nicht nur wissen, sondern auch erfahren. Speziell an unserem Angebot ist, dass es niederschwellig ist und auch für Menschen mit körperlichen und seelischen Einschränkungen zugänglich ist. Unsere Kurse haben eine stabile Teilnehmerschaft, es gibt sowohl Leute, die immer wieder kommen, als auch stets neue Interessierte. Weil Susanne Andrea Birke und Claudia Nothelfer auch in den Pfarreien präsent sind, finden von dort immer wieder Menschen den Weg in die Propstei zur Wegbegleitung.

 

Welche Menschen besuchen die Wegbegleitung?
Claudia Nothelfer: Es kommen Menschen in die Begleitung, die in einer schwierigen Lebenssituation sind. Sie sind durchaus spirituelle, gläubige Menschen, sie suchen ein offenes Ohr, aber auch Orientierung und Neuausrichtung. Die meisten sind in ihrer Pfarrei aktiv. Ich führe vor allem Einzelgespräche, meist ist die Begleitung kurz- bis mittelfristig. Es gibt aber auch Leute, die nur ein einzelnes Gespräch wünschen und andere, die über einen längeren Zeitraum immer wieder kommen. Im Moment nutzen fünf Personen dieses Angebot bei mir.

 

Claudia Mennen: Es gibt auch diejenigen, denen ein Gottesdienst in der Pfarrei nicht genug Nahrung gibt und die tiefere religiöse Erfahrungen suchen.

 

Claudia Nothelfer: Immer wieder fragen mich Leute, wie sie beten sollen, weil die üblichen Gebete für sie nicht mehr stimmen. Da biete ich ihnen zum Beispiel die Form der Stille an, das schweigende Gebet.

 

Susanne Andrea Birke: Einzelbegleitung war von Beginn an Teil meiner Arbeit. Mit dem Bereich «Wege zum Leben» verstärkte sich dieser Fokus. Aufgrund meines Schwerpunktes «Frauen und Gender» sind es überwiegend Frauen, die zu mir kommen. Seit den Segensfeiern für gleichgeschlechtlich Liebende und Angehörige sind es vermehrt auch Menschen aus diesen Personengruppen. Mit einem sehr weiten Spektrum – von ganz Kirchenverbundenen, die viel Herzblut und Liebe in diese Kirche investieren, bis hin zu solchen, die sich schon lang von ihr verabschiedet haben. Auch die Themen sind sehr unterschiedlich. Aallen gemeinsam ist aber sicher, dass es um einen tieferen Sinn im Leben geht.

 

Viele der Kurse von Bildung und Propstei – etwa Shibashi oder Jin Shin Jyutsu – orientieren sich an Entspannungs- und Meditationstechniken aus anderen Kulturkreisen und anderen Religionen. Wie geht das mit der katholischen Tradition zusammen?

Susanne Andrea Birke: Shibashi wurde via Fastenopfer über philippinische Ordensschwestern in der Schweiz vebreitet. Ich selbst bin in Fribourg 1991 auf feministische Befreiungstheologie aus Asien gestossen. Zuerst bei der beneditkinischen Ordensoberin der Philippinnen: Mary–John Mananzan, bei der ich auch zum ersten Mal Shibashi begegnete. Das war für mich sehr inspirierend. Ich denke wir hier können viel vom Christentum Asiens und der dortigen Befreiungstheologie lernen. Jin Shin Jyutsu wurde von einer japanischstämmigen Amerikanerin in den Westen gebracht, die bei ihrem Kulturtransfer immer wieder auf das Christentum zurückgriff, weil sie dort dieselben Lebenshaltungen fand. Entsprechend wird auch in Klöstern wie Ilanz Jin Shin Jyutsu angewendet und unterrichtet.

 

Claudia Mennen: So, wie wir heute finden, die Traditionelle Chinesische Medizin sei eine wunderbare Komplementärmedizin, könnte man die Methoden aus anderen Kulturkreisen, die den Körper einbeziehen, als «Komplementär-Religion» verstehen. Der Körper kommt ja sonst im Christentum kaum vor, es konzentriert sich auf das Wort.

 

Claudia Nothelfer: Das Christentum ist eine Religion des Wortes. Menschen brauchen darüber hinaus aber ganzheitliche Erfahrungen, die ihren Glauben beleben und in Fleisch und Blut verankern. Hier liegt tatsächlich eine Schwierigkeit. Der griechische Ausdruck «Logos» bedeutet mehr als «Wort». Er bedeutet, dass Gott in die Welt hinein geboren wird. Er drückt sich aus im Menschen und auch zwischen den Menschen. Gott als schweigende Existenz, in die ich in die Kontemplation eintauchen kann, will sich je neu ausdrücken, konkret werden, ein Antlitz und ein Herz bekommen. Mit Gott in Kontakt zu sein, ist für mich darum eher eine Lebenshaltung. Dazu mag ich gern ermuntern. Wir alle arbeiten in unseren Kursen auch über den Körper. In der Leibarbeit nach Graf Dürckheim, die ich in der Wegbegleitung anbiete, lassen sich zum Beispiel Blockaden lösen, die im Zellbewusstsein abgespeichert sind. Sanfte Berührungen erreichen über den Körper auch die Seele. Ein wichtiger Ansatz unserer Begleitungstätigkeit ist die Überzeugung, dass Spiritualität nicht bloss den Kopf, sondern den ganzen Körper umfasst.

 

Claudia Mennen: Manchmal kann gerade mit Hilfe des Körpers Unbewältigtes aufgebrochen werden. Das erlebe ich auch in meinen Bibliodrama-Kursen so. Wenn meine Kursteilnehmerinnen und –teilnehmer eine biblische Figur «verkörpern», so wirkt diese Figur in ihnen. Sie können spüren, welche Anteile dieser Figur auch in ihnen vorkommen. Der Ansatz, den Körper ins spirituelle Erleben mit einzubeziehen, ist für mich sehr christlich: Gott wird Mensch, bis in uns hinein. Dabei geht es uns nicht um Wellness oder ums Fit- oder Schönsein, sondern um Menschwerden. Letztlich um das Frei-Werden für sich und die Mitmenschen.

 

Susanne Andrea Birke: Ein ganz wichtiger Aspekt ist für mich der Atem. Wenn wir in Bibel und Tradition schauen, finden wir dort auch eine Theologie des Atems – auch wenn sie nicht im Detail ausgearbeitet ist: Ruach, der universelle Atem, die göttliche, schöpferische Geistkraft, die alles zum Leben erweckt und am Leben hält und Nefesch, der individuelle persönliche Atem oder auch die Seele, die zusammengehören. Nefesch haben wir nur, weil die Seele / der Atem uns eingehaucht wurde. Auch pneuma (Geist, Hauch, Luft) und spiritus (Geist oder der Gehauchte) enthalten diese Verbindung. Atem ist für mich also ein ganz grundlegender Aspekt gelebter SpirItualität.

 

Claudia Nothelfer: Wenn Menschen in Ursache-Wirkung verhaftet sind, kann es sein, dass die vermeintliche Gewissheit wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, sobald der Mensch in eine Krise gerät. Auch der sogenannte «Kinderglaube» an einen lieben Gott gibt keinen festen Halt. Wir wollen die Menschen zu einem erwachsenen Glauben einladen.

 

Wodurch zeichnet sich dieser erwachsene Glaube aus?

Claudia Nothelfer: Voraussetzung ist die Abnabelung von einem allzu menschlichen Gottesverständnis. Es geht darum, Gott weiter und grösser zu erfahren, einerseits geheimnisvoller, weniger fassbar, andererseits näher und in Beziehung.

Unsere Angebote bestehen eben nicht nur aus theologischer Bildung, sondern beinhalten genauso auch Herzensbildung und spirituelle Bildung. Wir wollen die Menschen annehmen in dem, was ihnen weh tut, wo sie Schritte ins Neuland suchen. Solange ich hadere, bewegt sich nichts. Darin sehe ich meine Funktion als Begleiterin: Da sein und jemandem helfen, auszuhalten, dass das Leben so ist, wie es ist. Erst dann gehen Türen auf. Ich persönlich finde dabei die Meditation sehr hilfreich. Meditation bestärkt die Menschen darin, dass sie angenommen sind ohne Wenn und Aber. Ich hoffe, dass die Menschen dabei spüren, dass Gott sie annimmt ohne zu bewerten.

 

Erlebt ihr die religiöse Komponente als «Mehrwert» bei eurer Arbeit?

Claudia Mennen: Es ist meine vollste Überzeugung, dass wir als Christen eine zusätzliche Ressource haben. Der Glaube ist eine Kraftquelle, wenn wir ihn existenziell anzapfen.

 

In eurer Ausschreibung des Bildungs- und Beratungsangebotes kommt der Ausdruck «Gott» nicht vor. Habt ihr das Wort bewusst vermieden?

Claudia Nothelfer: Interessanterweise ist mir das selber nicht aufgefallen. Es hat aber sicher damit zu tun, dass das Wort «Gott» eine Engführung sein kann. Wir sprechen Menschen an, die suchen und hoffen, vertrauen (wieder) lernen möchten und vielleicht erst einmal von Vorstellungen befreit werden wollen, die sie klein machen. Spiritualität eröffnet Wege in der Krise.

 

Habt ihr manchmal Leute, die sagen: Ich kann gar nichts mehr glauben, bei all dem Schrecklichen, das auf der Welt passiert?

Claudia Nothelfer: Ja, das gibt es durchaus. Aber ich hüte mich auch davor zu sagen, es habe alles seinen Sinn. Sinn ergibt für mich, wenn jemand mit einer schwierigen Situation umgehen kann, damit leben lernt. Dann kann man gestärkt aus einer Krise hervorgehen. Aber eine Krise – zum Beispiel eine schwere Krankheit – hat erst Mal keinen Sinn. Das Problem dabei ist meist unsere Vorstellung von Gott. Wenn ich Gott für alles verantwortlich mache, was auf der Welt passiert, müsste ich mich ja tatsächlich dringend von ihm verabschieden.

 

Mehr zur Wegbegleitung von Bildung und Propstei finden Sie hier

Themen Allgemein
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