16.12.2021

Martin Werlen, Propst von St. Gerold, im Interview zu seinem Impfaufruf via Twitter
Glauben ist gut, impfen aber auch

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Der Papst sowie zahlreiche Kardinäle und Bischöfe machten sich in den vergangenen Monaten ​für die Impfung stark.
  • Auch Pater Martin Werlen, ehemaliger Abt des Klosters Einsiedeln und heute Propst im österreichischen St. Gerold, rief auf Twitter zum Impfen auf.
  • Im Interview mit Horizonte findet Pater Martin Werlen deutliche Worte.

Propst Martin Werlen, Sie haben auf Twitter alle ermutigt, sich impfen zu lassen, aus Verantwortung gegenüber sich selbst, andern und der Zukunft. Welche Überlegungen haben Sie zum Tweet bewogen?
Martin Werlen: Wir sind in einer für fast alle Menschen sehr schwierigen Situation – und das seit 20 Monaten. Das Impfen ist nach allem, was wir weltweit bisher an Erkenntnissen haben, das beste Instrument, dem Virus Einhalt zu gebieten. Geimpfte werden weniger angesteckt und tragen das Virus weniger weiter, eine Erkrankung hat einen milderen Verlauf. Es ist der grösste Beitrag, die Spitäler zu entlasten. Und es trägt bei, dass wir weltweit wieder aufatmen können. Eine möglichst hohe Impfquote ist auch für Betriebe überlebenswichtig. Den Inhalt des Tweets habe ich zuerst an unsere 35 Mitarbeitenden gesandt.

«Jesus hätte niemanden gezwungen, eine Maske zu tragen und niemals zugelassen, dass man die alten Menschen einsperrt», schrieb uns eine Leserin. Was antworten Sie ihr?
Heute noch gibt es Menschen, die die Existenz des Coronavirus leugnen oder nicht wahrhaben wollen. Was nicht sein darf, ist nicht. Diese Haltung zeigt sich wohl auch in dieser Frage. Es geht nicht um Masken, Lockdown oder Impfen. Es geht darum, wie wir das Wüten dieses Virus einschränken und damit dem Menschen helfen können. Wie nie zuvor sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit miteinander an der Arbeit. Alles Suchen und Mittragen, wie wir aus dieser dramatischen Situation herauskommen und auch, wie wir gleichwohl einander nahe sein können, sind Ausdruck der Solidarität, der Selbst- und der Nächstenliebe und der Gottesliebe.

Mit einer kurzen Videobotschaft ermunterte der Papst bereits im August dazu, sich impfen zu lassen. Er nahm damit an einer internationalen Kampagne fürs Impfen teil.

«Dank Gott, und auch dank der Arbeit vieler Menschen, haben wir heute Impfstoffe, um uns vor Covid-19 zu schützen. Das gibt uns Hoffnung, der Pandemie ein Ende setzen zu können. Allerdings geht das nur, wenn die Impfstoffe für alle zugänglich sind und wenn wir alle untereinander zusammenarbeiten.» Sich impfen zu lassen habe etwas mit Liebe zu tun, so der Papst: mit Liebe zu sich selbst, Liebe gegenüber Angehörigen und Freunden, Liebe unter den Völkern. Mit solchen kleinen Gesten könne jeder dazu beitragen, «die Gesellschaft zu verändern und zu verbessern.»

Die Spaltung zwischen Geimpften und Ungeimpften ist weit fortgeschritten und geht mitten durch Familien, Vereine und auch Pfarreien. Wird man wieder zu einem versöhnten Miteinander finden können?
Zum Miteinander finden wir, wenn wir alle den Gegner im Virus finden und mit den Gaben, die Gott uns anvertraut hat, uns einsetzen, um seine Verbreitung zu stoppen. Solange wir gegen anderes oder andere kämpfen, ziehen wir nicht am selben Strick und erleichtern die Verbreitung des Virus.

Zur Spaltung tragen vor allem Leute, Gruppierungen und Medien bei, die aus eigenem Interesse ungestraft «faktenfreien Unsinn» – so formulierte es der österreichische Vizekanzler Werner Kogler – verbreiten. Kürzlich habe ich eine Demonstration gegen die Coronamassnahmen mit gebührendem Abstand mitverfolgt. Mir sind die Haare, die ich noch habe, zu Berge gestanden.

Was hilft denn gegen solch realitätsferne Überzeugungen?
Die grosse Frage ist: Wie erreichen wir mit fundierten Erkenntnissen die Leute, die sich bereits abgeschottet haben und – im Extremfall – eine Parallelgesellschaft planen? Dies erinnert mich stark an den tragischen Vorfall am 6. Januar 2021 in den USA, als das Kapitol gestürmt wurde. Menschen in Politik und in der Medienwelt tragen eine grosse Verantwortung. Als Kirche können wir die Not im Gebet vor Gott tragen, für die Menschen beten, die jetzt besondere Verantwortung tragen, und für uns selbst, damit wir kreativ werden im Umgang mit dieser schlimmen Situation und uns nicht abschotten und verhärten.

Sie leben in Österreich. Was denken Sie aus theologischer, ethischer und persönlicher Sicht über die Impfpflicht, die bei Ihnen bald gelten soll?
Es ist traurig, dass es eine Impfpflicht braucht. Viele Länder haben eine niedrige Impfquote, weil nicht genügend Impfstoff zu ihnen kommt. Wir hätten den Impfstoff, aber eine doch recht grosse Zahl zieht das Ich dem Wir vor.

Dabei ist der Impfstoff so geprüft, wie kaum ein Medikament, das wir selbstverständlich einnehmen. Niemand wird zum Impfen gezwungen. Aber wer sich nicht impfen lässt, muss auf Verschiedenes in der Gesellschaft verzichten und Solidarität mit einem regelmässigen Geldbeitrag leisten. Ich finde den Weg angemessen, den Österreich wagt, zumal er viele Menschen dazu führt, sich impfen zu lassen. Was wir nicht vergessen dürfen: Die Mehrheit der Bevölkerung trägt in grosser Solidarität die schwierige Situation mit – über alle Generationen, Erfahrungshintergründe, Religionszugehörigkeiten und Kulturen hinweg. Das ist für mich eine Weihnachtserfahrung.

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