10.05.2021

Telefongespräche statt persönlicher Treffen
«Was für Geschichten!»

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Abgesagte Seniorennachmittage liessen Rita Brügger und Christine Seiler kreativ werden. Sie griffen zum Telefon und lernten alte Bekannte ganz neu kennen.
  • Die beiden Frauen führten Interviews mit den Seniorinnen und Senioren und schrieben ihre Lebensgeschichten auf.
  • Im daraus entstandenen Heft steckt Schönes und Schweres, aber vor allem Dankbarkeit für das gelebte Leben.

Rita Brügger und Christine Seiler sind seit 30 Jahren Nachbarinnen. Ihre beiden Balkone trennt ein niedriges Mäucherchen, über das sie manchmal steigen, wenn sie es eilig haben. Doch auch grössere Hürden überwinden die beiden Frauen gemeinsam. Zum Glück, denn seit dem letzten Frühling stellte ihnen die Pandemie immer wieder Hindernisse in den Weg.

Nichts tun war keine Option

Seit mehr als zehn Jahren bewirten die beiden Frauen die Besucherinnen und Besucher des Seniorennachmittags. Der gesellige Anlass wird von der reformierten und der katholischen Kirchgemeinde organisiert und findet einmal im Monat in der ökumenischen Johanneskirche in Arni statt. Etwa 30 Seniorinnen und Senioren aus den umliegenden Gemeinden fanden regelmässig den Weg nach Arni. Neben dem thematischen Teil vor allem auch, um gemeinsam zu essen, zu singen und zu plaudern. Bis Corona kam.

Um den Kontakt zu den alten Menschen dennoch zu halten, verschickten Christine Seiler und Rita Brügger Briefe. Wenn jemand Geburtstag hatte, gingen sie persönlich gratulieren. Vor Weihnachten bastelten sie kleine Päckli und brachten jedem eine Schachtel mit täglichen Adventsüberraschungen vorbei. «Wir wollten nicht einfach abwarten», sagt Christine Seiler, «einige unserer Senioren sind über 90 Jahre alt. In diesem Alter ist Zeit noch wertvoller.»

Einfach und genial

Im letzten Sommer schafften es die zwei erfinderischen Frauen, dass sich die Seniorinnen und Senioren in kleinen Gruppen treffen konnnten. Rita Brügger erinnert sich: «Wir sprachen über die Schulzeit. Im kleinen Rahmen ergaben sich intensivere Gespräche als bei den früheren Treffen.»

Durch diese Erfahrung inspiriert und angeregt vom Buch «Damals im Freiamt», hatten Rita Brügger und Christine Seiler eine so einfache wie geniale Idee. «Wir beschlossen, die regelmässigen Besucher zu interviewen und ihre Lebensgeschichten aufzuschreiben», erklärt Rita Brügger. Damit jede und jeder die Biographie der anderen lesen kann.

Fragen als Leitfaden

Die Seelsorger Claudio Gabriel, Reto Studer und Georg Umbricht erklärten sich bereit, mitzuhelfen. So fragten sie bei den einzelnen Frauen und Männern an, ob sie bereit wären, über ihr Leben Auskunft zu geben. Die grosse Mehrheit willigte ein. Christine Seiler überlegte sich Fragen, die als Leitfaden für die Gespräche dienten. «Wie sind Sie aufgewachsen?», «Was war wertvoll in ihrem Leben?» oder «Was können Sie jungen Leuten mitgeben?» lauteten einige der Fragen.

Endlich Zeit für gute Gespräche

Die Gespräche führten sie per Telefon. Und hatten endlich einmal Zeit, richtig mit den Leuten zu reden, die sie ja schon seit einer Weile kannten. Was sie erfuhren, hat Christine Seiler und Rita Brügger beeindruckt. Der Titel des Hefts «Was für Geschichten» bringt die Freude über den faszinierenden Schatz an Geschichten auf den Punkt. Rita Brügger fasst zusammen: «Trotz teilweise schwerer Schicksale kam in den Gesprächen viel Dankbarkeit zum Ausdruck.»

Das Büchlein macht auch klar, dass die Generation der über 80-Jährigen mit Krieg und Mobilmachung eine prägende Krise wie die Coronapandemie schon erlebt hat. Eine der Seniorinnen ist in der Zwischenzeit gestorben, doch Christine Seiler hat ihre Sätze noch in den Ohren: «Ich war ein glückliches Kind. Und jetzt bin ich eine glückliche alte Frau.»

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