17.12.2015

«Ich muss mich nicht distanzieren»

Von Andreas C. Müller

Die Jugendarbeit der Muslime in der Schweiz vernachlässige die Integration und engagiere sich zu wenig gegen Extremismus, lautet ein gern wiederholter Vorwurf in den Medien. Überhaupt distanzierten sich die Muslime in der Schweiz nicht entschieden genug von terroristischen Attentaten. Horizonte ging diesen Behauptungen auf den Grund und traf in Oberentfelden muslimische Jugendliche und die Verantwortlichen für die Jugendarbeit.

Direkt an der Hauptstrasse am nördlichen Rand der Gemeinde Oberentfelden steht das ehemalige Hotel Bad. An diesem Freitag im Dezember ist das Gebäude hell erleuchtet, vor dem Eingang stehen einige Männer, Frauen und Jugendliche. Ich nähere mich, man registriert mich sofort, schliesslich bin ich ein «Fremder». Ein junger Mann begrüsst mich freundlich, hernach zwei Frauen. Letztere sind nach bosnisch-muslimischer Tradition in weite Gewänder und Kopftuch gekleidet: N. Puric und ihre 19-jährige Tochter. Die beiden sind auf den ersten Blick die einzigen Frauen im traditionellen Habit und bleiben es bei einer ersten Kurzführung durch die Räumlichkeiten. Insofern wirken sie rein äusserlich wie Fremde in ihrer eigenen Gemeinschaft.

Treffpunkt für Muslime aus der ganzen Region
In den verschiedenen Räumen des Gebäudes geht es lebhaft zu und her: Kinder tollen herum, Jugendliche sitzen an Tischen und unterhalten sich angeregt. In einem der Räume ist ein riesiges Buffet aufgetischt. Seit 2005 ist das ehemalige Hotel Bad Sitz der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken des Kantons Aargau (IGBA). «Rund 750 Familien gehören der Gemeinschaft an, das sind etwa 2000 Personen», erklärt N. Puric, die in der IGBA die Jugendlichen betreut. «Wir sind mehrheitlich Bosnier, dazu ein paar Albaner, Türken und Mazedonier.» Männer sehe ich auf den ersten Blick kaum. Diese haben sich in der Moschee zum Gebet versammelt.

In Bosnien «die Schweizer», in der Schweiz «die Ausländer»
Übers Wochenende werden die verschiedenen Räume für Sprach- und Religionsunterricht genutzt. Weiter treffen sich die Mitglieder verschiedener Unterorganisationen der IGBA: Fussballer und Tanzgruppen beispielsweise. Der 19-Jährige, der mich zusammen mit N. Puric und deren Tochter begrüsst hatte, ist vom Gebet zurück und führt mich in den Dachstock. Dort sitzen im Kreis auf Sesseln und Sofas ein paar Jugendliche. Ich erkenne die Tochter von N. Puric wieder. Flankiert wird die 19-jährige Kantischülerin von ihren Freundinnen. Die Mädchen tragen Kopftuch, geben aber auf Nachfragen an, dass sie «im Alltag in der heutigen Situation nicht so herumlaufen würden.» Aus Vorsicht wollen sie – wie alle anwesenden Jugendlichen – nicht, dass ihre Namen ausgeschrieben werden. Ich soll bei Initialen bleiben. Die Mädchen verstehen sich als junge Musliminnen und Bosnierinnen, obwohl sie in der Schweiz geboren sind. Ich frage mich, inwieweit das nicht das Vorurteil der indifferenten Parallelgesellschaft bestätigt. Da meint A., der mich begrüsst hat und mir nun gegenüber sitzt: «Ich glaube, wir sind nirgends wirklich daheim. In Bosnien sind wir „die Schweizer“, hier „die Ausländer“.» Neben dem 19-Jährigen sitzt ein etwas jüngeres Mädchen. Sie trägt weder Kopftuch noch traditionelle Kleidung. «Ich bin Schweizerin, bekennt sie, ergänzt dann aber nach einer kurzen Pause: «Mit der bosnischen Kultur fühle ich mich gleichwohl verbunden, sonst wäre ich wohl nicht hier». Die anwesenden Jugendlichen haben sich offensichtlich bereits differenziert mit dem Thema Heimat auseinandergesetzt. Weiter scheint es kein Problem zu sein, sich als Schweizerin oder Schweizer zu verstehen, sofern man das will. Aber wo stehen diese Jugendlichen ideologisch? Was für Werte vertreten sie und was vermitteln ihnen die Erwachsenen?

Warum Distanzieren, wenn man damit nichts zu schaffen hat
Die Propaganda-Videos des IS haben einige Jugendliche schon gesehen. «Das müssen wir ja, weil wir im Alltag immer wieder beweisen müssen, dass wir nicht so sind», klagt die Tochter von N. Puric zerknirscht. Sie sehe nicht ein, warum sie sich von den Taten jener Leute distanzieren müsse, die ihm Namen Allahs Verbrechen verübten. Sie habe doch nichts zu schaffen mit denen. Ich verstehe: Dass Muslime auf Ereignisse wie die Anschläge in Paris nicht die von uns erwartete Reaktion zeigen, heisst nicht, dass Terror im Rahmen der Religion gebilligt wird. Im Gegenteil. M. Mujala, Präsident der IGBA, erklärt es so: «Wenn ein Betrunkener „Allahu akbar“ ruft und sich dann in die Luft sprengt – was hat das bitte mit dem Islam zu tun?» Und nach einer Pause ergänzt er: «Bei euch kommt es doch auch niemandem in den Sinn, alle Christen unter Generalverdacht zu stellen, wenn ein Fanatiker im Namen Gottes Menschen tötet.» «Als Muslimin muss ich mich dann hier in der Schweiz dafür rechtfertigen, was der IS tut und was irgendwelche Leute in Europa im Namen des IS tun», berichtet die Tochter von N. Puric. Der Frust innerhalb der Runde ist spürbar. Ein junger Erwachsener direkt neben mir wirft ein: «Einerseits zeigt ihr immer mit dem Finger auf uns, aber hinterfragt euch nicht. Nach den Anschlägen in Frankreich wollten auf Facebook alle „Charlie“ oder „Paris“ sein, aber wenn in Ankara oder Istanbul so ein Anschlag verübt wird, passiert nichts dergleichen.»

Nur wenige schwarze Schafe unter 400 000 Muslimen
«Seit fast dreissig Jahren – also seit es diese Gemeinschaft gibt – kämpfen wir gegen Vorurteile gegenüber uns Muslimen», erklärt N. Puric. «Und wenn die SVP und die Zeitungen immer wieder dieselben Unwahrheiten verbreiten, dann wird das irgendwann für die Leute zur Wahrheit», ergänzt M. Mujala. «Es leben etwa 400 000 Muslime in der Schweiz», fährt N. Puric fort. «Unter diesen gibt es etwa 20 bis 30 Personen, von denen vermutet wird, dass sie mit dem IS sympathisieren. Die meisten davon sind Konvertiten. Da kann man doch nicht hingehen und alle Muslime verdächtigen.» Spinner gebe es doch überall, wirft A. ein. Und N. Puric doppelt mit einer Frage nach: «Existiert überhaupt eine grosse Gemeinschaft, in der es nicht eine gewisse Prozentzahl an Extremisten und Fanatikern gibt?»

Ausbildung, Aufrichtigkeit und Gemeinschaft
Was aber garantiere denn, dass muslimische Jugendliche nicht für die Ideen eines radikalen Islam empfänglich würden, will ich wissen. Man müsse zunächst einmal schauen, was das denn für Leute seinen, erklärt A. In Frankreich seien das Jugendliche ohne Perspektiven, ohne Arbeit, die auch die Sprache nicht könnten. «Wir legen Wert darauf, dass unsere Jugendlichen eine Ausbildung machen und sich integrieren», erklärt M. Mujala. «Und wir erziehen unsere Kinder nicht mit Legenden, die Hass schüren. Wir Bosnier spüren heute noch jeden Tag, was uns die, die uns hassen, angetan haben. Deswegen wollen wir unsere Kinder nicht im Hass erziehen.» Ein letzter wichtiger Teil sei die Gemeinschaft und die damit verbundenen gemeinsamen Werte. Die Jugendlichen nicken zustimmend: Man kommt regelmässig zusammen, tauscht sich aus, macht sich im Religionsunterricht und beim Gebet mit zentralen Werten vertraut. «Aber wenn nun ein Gemeindevorsteher radikale Ansichten vertritt, dann werde doch gerade die Gemeinschaft für die Jugendlichen zur Gefahr», werfe ich ein. «Trotz allem, was uns in Bosnien passiert ist, sind wir nicht zu Extremisten geworden», bekräftigt N. Puric. Diese Aussage beweise aber noch gar nichts, meine ich. «Wir können letztlich nur immer wieder zeigen, was der Islam ist. Nur so können wir Vertrauen aufbauen», meint M. Mujala.

Manchmal ein Aussenseiter
Wofür denn ihre Gemeinschaft genau einstehe, will ich wissen. «Es geht zu einem Grossteil darum, den Jugendlichen die Religion sowie die bosnische Sprache und Kultur zu vermitteln», erklärt M. Mujala «Man merkt den Unterschied zwischen Menschen, die einen festen Platz in einer Gemeinschaft haben, und anderen», meint die Tochter von N. Puric. «Wir unterstützen uns gegenseitig und haben so die Kraft, unsere Werte zu bewahren.» Klar, die bosnische Kultur funktioniere anders als die Schweiz, das merke man im Alltag. Religion, der Gehorsam gegenüber den Eltern und die Verbindung in der Gemeinschaft seien hierzulande oft Nebensache. Entsprechend erlebe man sich manchmal als Aussenseiter, wenn man nicht mitziehe, bestätigt A. Gleichwohl hat der junge Mann viel Lob für die Schweiz übrig: «Hier leben viele Menschen mit ausländischen Wurzeln. Sie leben nicht nur hier, sie sind integriert, sie haben ihren Platz.»

 

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