04.09.2013

In der Liturgie spricht Gott zu seinem Volk

Von Horizonte Aargau

Vor 50 Jahren hat das Zweite Vatikanische Konzil die Weichen für die Kirche neu gestellt. Besonders anschaulich und konkret sind die Veränderungen im Bereich des Gottesdienstes. Erlebten die Gläubigen diese vor dem Konzil als Anwesende, gestalten sie heutzutage aktiv die verschiedenen Gottesdienstformen mit. Im Rahmen des Jubiläumsjahr «Den Glauben feiern», zeigt das Liturgische Institut der deutschsprachigen Schweiz in einer Artikelreihe an ausgewählten Beispielen die Tragweite der konziliaren Liturgiereform. Im dritten Teil der Reihe beleuchtet Gunda Brüske die Reform der Leseordnung.

Wie wirkt es, wenn ein Priester das Evangelium mit dem Rücken zur Gemeinde spricht? Was geht in den Kirchbesuchern vor, wenn sie die Texte nicht verstehen, die gesprochen werden? Wenn sie Gebete nicht hören, weil der Priester sie leise spricht? Aus heutiger Sicht ist dies schwer vorstellbar, so gross ist der Kontrast zwischen der Liturgie vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil.

Ein Mangel als Hintergrund
Schon vor dem Konzil wurden Schwächen der Leseordnung diskutiert: Die Beschäftigung mit dem Wort Gottes forderte eine stärkere Präsenz der Bibel in der Liturgie; die Verkündigung in der Volkssprache war ein grosses Thema. Es bestand Handlungsbedarf. Der nachdrückliche Auftrag der Konzilsväter hiess, dass «innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren die wichtigsten Teile der Heiligen Schriften dem Volk vorgetragen werden» sollten. Hintergrund dieses Auftrages ist ein Mangel: Alle Sonn- und Festtagslesungen wiederholten sich jährlich. Es wurde fast nur aus dem Matthäusevangelium gelesen. Alttestamentliche Lesungen fehlten beinahe ganz. Wochentags wiederholte man oft die Lesungen vom Sonntag. Ein mehr als tausend Jahre alter Zustand. Die Revision der Leseordnung: eine epochale Angelegenheit.

In der Praxis erprobt
Dass die Aufgabe in wenigen Jahren bewältigt wurde, liegt an Diskussionen und Vorarbeiten im Vorfeld des Konzils und zum erheblichen Teil daran, dass viele Personen aus Liturgiewissenschaft und Pastoral, sogar Bischofskonferenzen mit dem «Rat für die Ausführung der Liturgiekonstitution» zusammenarbeiteten. Verschiedene Modelle wurden in zahlreichen Ländern erprobt. Erfahrungen aus der Pastoral gingen in Rom in die laufenden Arbeiten ein. Es folgte eine weltweite Vernehmlassung. Rückmeldungen wurden eingearbeitet. Am 25. Mai 1969 konnte schliesslich die neue Leseordnung veröffentlicht werden: mehr als nur ein Schreibtischwerk.

Alle vier Evangelien
Und die konkrete Umsetzung? Die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas wurden jeweils einem (Lese)Jahr, das Johannesevangelium den Festzeiten zugeordnet. Jeder Sonn- und Festtag erhielt drei Lesungen: eine alttestamentliche, eine aus der neutestamentlichen Briefliteratur und das Evangelium. Die alttestamentliche Lesung hat einen Bezug zum Evangelium, welches fortlaufend, Sonntag für Sonntag, gelesen wird. Innert drei Jahren kommen alle vier Evangelien vollständig zu Gehör. Die Wochentage bekamen ebenfalls eigene Lesungen. Der Reichtum der Schrift und die Mannigfaltigkeit der biblischen Verkündigung kommen nun zur Geltung.

Problematische Zuordnung
Dennoch: Es fehlen Lesungen, viele Texte, die von grossen Frauengestalten erzählen oder wichtige alttestamentliche Perikopen. Das wird zu Recht kritisiert. Auch die Zuordnung von alttestamentlicher Lesung und Evangelium kann zuweilen problematisch sein, wenn das Erste Testament als Negativfolie für das befreiende Handeln Jesu herhalten muss. Trotzdem ist diese Leseordnung, wie ein durchaus kritischer Liturgiewissenschaftler einmal feststellte, die beste, die die römisch-katholische in ihrer Geschichte jemals hatte.

Auslegung in der Predigt
Weil sich der Reichtum der Schriften nicht von selbst erschliesst, braucht es die Predigt. So haben die Konzilsväter bestimmt, dass man die Predigt an Sonn- und Feiertagen nicht ausfallen lassen darf. Schliesslich hat die biblische Verkündigung jetzt, nach dem Konzil, ganz real einen neuen Platz im Kirchenraum gefunden: Den Ambo, der die Kanzel abgelöst hat. Er bildete, als Tisch des Wortes, gemeinsam mit dem Altar, dem Tisch des Brotes, das liturgische Zentrum des Raumes.

Gunda Brüske/aj

www.liturgie.ch

Themen Historisches
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