08.02.2015

In Gaza gibt es keine Träume mehr

Von Anne Burgmer

Gaza-Stadt. Trümmerwüste. Das Leben dort schreibt keine Schlagzeilen. Im Vergleich zu seinen Altersgenossen ist er gut dran, sagt Jawdatt. Der 23-Jährige hat sein Bachelor-Studium der englischen Literatur an der Universität Gaza abgeschlossen, hat eine Praktikumsstelle in einem christlichen Krankenhaus gefunden. Mit 400 Dollar monatlich kann er seine Familie unterstützen. Im Interview spricht der Katholik über sein Leben als Christ in Gaza, über seine Träume und davon, wie er seine Heimat und seine Kirche weiterentwickeln will.

Wie wichtig ist Dein Glaube für Dich?
Jawdatt: Ich bin stolz, Christ zu sein und sehr, sehr stolz, Katholik zu sein. Als Papst Franziskus mit dem jordanischen Hubschrauber direkt nach Bethlehem gekommen ist, hat er gezeigt, dass Palästina ein unabhängiger Staat ist. Er hat sich geweigert, über den Flughafen Ben Gurion nach Palästina zu reisen. Wir sind sehr stolz auf ihn.

Für viele ist die Uni-Zeit eine der besten Zeiten ihres Lebens. Wie ist es, Student in Gaza zu sein?
Die Studienzeit war eine sehr schwierige Zeit. Mein Bruder und ich waren zur gleichen Zeit an der Universität. Die Studiengebühren sind hoch im Vergleich zu den Gehältern, besonders, wenn man wie meine Familie zur Miete wohnt. Ich hatte quasi kein Studentenleben. Von meiner Erfahrung muss ich sagen, die Schulzeit war besser. Da war ich noch klein.

Du hast Dein Bachelor-Studium abgeschlossen. Was sind Deine Pläne?
Ich möchte mich weiterentwickeln. Ich will eine bessere Zukunft, aber ich sehe keinen Weg in Gaza.

Du willst raus aus Gaza?
Ja.

Kannst Du raus?
Nein. Ich kann Gaza nicht via Israel verlassen, weil ich keine 35 Jahre alt bin. Und Ägypten hat die Grenze geschlossen. Wenn Menschen dies hören, werden sie sagen, eines Tages werden die Grenzen offen sein, du darfst die Hoffnung nicht verlieren. Fakt ist aber, dass wir in einem Gefängnis leben. Was meine Freunde ausserhalb mir über das Leben erzählen, haben wir nicht in Gaza. Wir haben kein normales Leben. Wenn ich sehe, dass andere Leute aus Gaza Ausreisegenehmigungen erhalten, glaube ich, dass es Abmachungen zwischen der orthodoxen Kirche und Israel gibt, damit wir Christen nicht ausreisen dürfen.

Weshalb sollten sie das tun?
Die meisten haben Angst, dass wir auswandern, wenn wir Gaza verlassen. Nein. Sie sollten wissen, dass wir unsere Familien hier haben. Wir müssen wiederkommen. Dies ist das Land Jesu, das Land der Christen, das können wir nicht einfach verlassen. Vielleicht würden wir in die Westbank ziehen. Aber das kann man nicht Emigration nennen. Es ist Teil des gleichen Landes, Palästina.

Wenn es kein normales Leben in Gaza gibt, wie sieht das Leben eines jungen Menschen in Gaza dann aus?
Ich gehöre zur Mittelklasse hier in Gaza. Ich kann zum Beispiel in Restaurants gehen. Aber ich kann nicht mit meiner Freundin oder einem Mädchen gehen. In Gaza können nur wir Jungs für uns sein und die Mädchen für sich. Andernfalls würde die Familie des Mädchens ihr grosse Probleme machen. Also ist Ausgehen nicht besonders aufregend. Ich habe keine grossen Leidenschaften, etwa etwas zu lesen oder so. Ich denke vor allem über meine Zukunft nach und was ich tun kann. Soll ich wirklich hier für 400 Dollar im Monat arbeiten? Dabei bin ich noch vergleichsweise gut dran. Wenn ich um mich herum schaue, sehe ich eine ganze Reihe von Jungs, 27, 30, 31 Jahre alt und ohne Job. Ist das meine Zukunft? Ist das mein Traum? Als ich klein war und meine Eltern mich fragten, was ich einmal werden will, habe ich geantwortet, vielleicht Arzt, oder Ingenieur. Heute haben wir nichts von alledem. In Gaza gibt es keine Träume mehr.

Auch die jungen Menschen nicht?
Ich kann nur von meinem Traum erzählen. Ich will einen Master machen, damit mein Vater stolz auf mich ist. Dann will ich zurück nach Palästina, um mein Land und meine Kirche weiterzuentwickeln. Meine Generation von Christen hier hatte nie die Chance, sich so zu qualifizieren, dass Menschen sagen. „Diese Christen sind unglaublich.“ Die früheren Generationen hatten die Chance, überall hinzugehen und etwas wirklich Wichtiges zu studieren. Noch heute gibt es Menschen in Gaza, die sagen „Ja, ich kenne Doktor Flan. Er ist Christ“. Meine Generation hat nicht die Chance, Fertigkeiten zu erlernen, die sie in die Gesellschaft einbringen kann.

Also eine verlorene Generation?
Wir sind eine verlorene Generation, weil wir kein normales Leben haben. Aber wir sind auch eine erfahrene Generation. Wir wissen mehr, als alle anderen in der Welt über die harten Umstände des Lebens. An welchen Ort in der Welt Du mich auch bringst, ich kann mit der Situation umgehen, weil ich diese Erfahrung habe. Bring mich nach Somalia, nach Amerika, nach London: Ich kann dort leben.

Trotzdem willst Du zurück nach Gaza.
Ich will mit einem guten Abschluss zurückkommen und das Land oder eine christliche Organisation leiten, um so allen Menschen zu helfen. Das ist es, was Jesus von uns will. Wie können wir zur Verbreitung des Christentums beitragen? Nicht indem wir von Jesus oder der Bibel reden, sondern durch unsere Haltung gegenüber den Menschen.

Wenn Du jemanden um Hilfe bitten könntest, um was würdest Du bitten?
Ich will kein Geld. Ich will mein Geld mit meiner Arbeit verdienen. Wenn mir jemand helfen will, dann mit einem Stipendium oder mit einer Einladung ins Ausland. Wenn ich das meinen Freunden ausserhalb sage, dann sagen sie, sie können mir nicht helfen, weil sie sonst Schwierigkeiten bekommen. Oder sie sagen, sie seien gerade sehr beschäftigt und verabschieden sich. Ich will mich nicht schwach fühlen, nur weil das Leben hier nicht so befriedigend ist wie im Ausland und ich im Krieg lebe.

Sehen Deine Freunde das auch so wie Du?
Hundertprozentig! Und ehrlich gesagt: Ich würde gerne mal all die Spender treffen, um ihnen zu sagen: Wir wollen keine Lebensmittelpakete, kein Wasser. Wir wollen ein echtes Projekt hier in Gaza. Wir wollen der Jugend ermöglichen, sich zu qualifizieren und das Land mit Liebe und Frieden zu kontrollieren. Nicht alle von uns unterstützen die Gewalt. Auch die meisten Muslime hier sind aufgeschlossen. Vielleicht erlaubt es ihre Religion ihnen, zu töten. Aber wir wollen nicht töten. Die meisten Menschen hier, Muslime und Christen, wollen kein Morden, kein Töten und all dies. Wir wollen ein normales Leben.

Du hast vom Krieg gesprochen. Wie hast du diesen Krieg erlebt?
Mein ganzes Leben ist Krieg. Ich wurde 1992 geboren. 2000 begann die zweite Intifada. 2008 war ich noch in der Schule. Meine Eltern waren mit Weihnachtsreisegenehmigungen ins Westjordanland gefahren, ich bin bei meiner Tante geblieben. Ich war 17 Jahre alt und bekam keine Reisegenehmigung. Es war zwei Tage vor Weihnachten, als die Bombardierung begann. Zuerst hielten wir es für Fake, falsche Flugzeuggeräusche, wie Israel sie manchmal benutzt. Doch dann sahen wir, dass Krieg herrscht. Die meisten Polizeistationen in Gaza wurden attackiert. Meine Eltern hörten im Radio davon, dass Krieg ist in Gaza und konnten uns nicht erreichen, weil das Telefonnetz beschädigt war. Als ich an dem Tag bei meiner Tante ankam, rief die Mutter meines besten Freundes Karim an. Karim ist wie mein Bruder. Er war nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Ich wollte rausgehen und ihn suchen, aber der Mann meiner Tante hat mich daran gehindert. Ich war so wütend. Ich wollte wissen, ob mein Freund verletzt ist oder vielleicht tot. Zwei Stunden später rief seine Mutter erneut an. Karim war heile zuhause angekommen.

Der nächste Krieg war 2012.
Zu der Zeit war ich im zweiten Jahr an der Universität. Wir sassen im YMCA in Gaza-Stadt und hörten ein merkwürdiges Geräusch. Als wir in den Himmel schauten, realisierten wir, dass Raketen aus unserer Nähe abgeschossen wurden. Es waren unsere Raketen. Palästinensische Raketen. Wir fragten uns warum, es gab keine Anzeichen für einen Krieg und der letzte Krieg war erst weniger Jahre her. Minuten später kamen die F16-Bomben aus der Luft, also sind wir nach Hause gegangen. In diesem Krieg hat Israel ein Sportstadium wenige Meter von unserem Haus mit acht F16-Raketen angegriffen. Die Wasserleitungen in unserem Haus barsten durch die Druckwelle. Wir haben Tel Aviv angegriffen, sagen sie. Nach zwölf Tagen war der Krieg vorbei. Ich ging weiter zur Uni und machte meinen Abschluss. Sechs Tage danach begann der 2014-Krieg. Und dieser Krieg war wirklich eine Katastrophe.

Was war anders?
Jede einzelne Stelle in Gaza war von den Raketen bedroht. Wir konnten nichts als zu Hause bleiben und auf den Tod warten. Der Krieg dauerte 51 Tage. Nach dreissig Tagen spürte ich, dass psychisch etwas nicht in Ordnung ist. Dreissig Tage zuhause, Du hörst, dass Dein Freund gestorben ist, dass es in dieser Strasse einen Tunnel gibt, dass sie das Haus links von deinem bedrohen. Wir konnten nicht mal Batterien für das Radio kaufen, um Nachrichten zu hören. Wir konnten nicht auf die Strasse, und die Supermärkte waren geschlossen. Kein Wasser. Kein Strom. In der letzten Nacht des Kriegs haben sie im Radio gesagt, das Al-Muhandisin-Wohngebäude werde angegriffen. Es gibt zwei Gebäude mit diesem Namen, in einem davon leben wir. Ich dachte, wovon reden die? Schliesslich haben wir beim Roten Kreuz nachgefragt und erfahren, dass es um das andere Al-Muhandisin ging, nicht um unseres. Die Situation war furchtbar, wir haben uns alle sehr deprimiert gefühlt. Wir haben in diesem Krieg viel verloren. Heute gehe ich ins Fitnessstudio, um diese schlechten Gefühle aus mir rauszubekommen.

Und die Kirche in all dem?
Die Christen in Gaza haben während des letzten Kriegs sehr hart gearbeitet. Sie haben Menschen mit Wasser und Nahrung versorgt, ihre Schulen und Kirchen für Flüchtlinge der völlig zerstörten Viertel geöffnet. Auch die katholische Kirche war für Flüchtlinge offen. Dann haben sie ein Haus neben der Kirche angegriffen. Eine Rakete landete im Hof der Kirche. Die Menschen hatten Angst und haben die Kirche verlassen und in der orthodoxen Kirche und in den Schulen Schutz gesucht. Als unser jetziger Pfarrer, Abouna Jorge, nach Gaza kam, hat er viele Aktivitäten für uns junge Christen organisiert. Unter seinem Vorgänger gab es das nicht. Jetzt sind wir einbezogen in das kirchliche Leben und sind oft in der Pfarrei.

Was wünschst Du Deiner Heimat Gaza?
Ich wünsche mir Frieden, Frieden und nochmal Frieden. Und Freiheit, nicht nur für mein Land, sondern für mich, damit ich fühle, dass ich ein freies Leben führe.

Andrea Krogmann

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