20.05.2022

Impulstagung «Männerarbeit und Männerseelsorge» hat altes Engagement neu belebt
Ja, es braucht sie!

Von Christian Breitschmid

  • Männer sind ausgerechnet in der patriarchal-hierarchisch aufgebauten katholischen Kirche im Hinblick auf die geschlechterspezifische Seelsorge eine Randerscheinung.
  • An der Impulstagung «Männerarbeit und Männerseelsorge» wurde von Fachleuten auf diesem Gebiet am Mittwoch im Aarauer Bullingerhaus eine Bestandesaufnahme gemacht.
  • Fazit: Es gibt Angebote, aber es braucht mehr. Darum soll sich künftig eine Fachgruppe kümmern, die sich im September zur Gründungssitzung wieder in Aarau trifft

Wann ist ein Mann ein Mann? Das fragte sich nicht erst Herbert Grönemeyer in seiner bis heute aktuellen Hymne «Männer», sondern diese Frage bewegt einen jeden Mann eher früher als später in seinem Leben. Die meisten Antworten auf diese Frage hat er dann auch schon erhalten, denn die nach wie vor geltenden Normierungen, Stereotypen und Vorurteile, das eigene Geschlecht betreffend, wurden ihm schon so lange eingeimpft, dass er wirklich glaubt, nur ein echter Mann zu sein, wenn er einem Bild entspricht, dem er im Spiegel einfach nie begegnet.

Wenn ihn dann die grosse Verzweiflung packt, weil sich all die hehren Männerideale beim Blick auf die eigene Person in nurmehr einem der drei dicken Bs widerspiegeln – Bauch, Bart, Bizeps –, dann verzieht sich der Mann nach innen. Er fasst einen einsamen Entschluss und kauft sich eine Harley. Denn, so Grönemeyer, «Männer sind einsame Streiter, müssen durch jede Wand, müssen immer weiter». Das ist ein Teufelskreis, der durchbrochen gehört. Den Weg zum Durchbruch hat Jesus Christus gezeigt. Aufgabe der Kirchen wäre es, Männer beim Gang auf diesem Weg zu begleiten. Sie kümmern sich aber lieber um anderes.

Ziel erreicht

Die Impulstagung «Männerarbeit und Männerseelsorge: Was es gibt – was es braucht», die am 18. Mai im Bullingerhaus Aarau durchgeführt wurde, verfolgte ein klares Ziel. Ihre Organisatoren wollten Fachleute aus dem Bereich Männerarbeit/Männerseelsorge zusammenbringen, um sich gegenseitig zu vernetzen, den Austausch zu pflegen und im Idealfall eine Fachgruppe «Männerarbeit in kirchlichen Kontexten» zusammenzustellen, die unter dem Dach der Schweizer Männer- und Väterorganisationen männer.ch der emanzipatorischen Männerarbeit sowohl interkantonal als auch konfessionsübergreifend neuen Schub verleiht. Soviel sei verraten: Ziel erreicht! Das Gründungstreffen der Fachgruppe findet am Dienstag, 13. September, wiederum in Aarau statt. Horizonte wird berichten.

Männerarbeit krankt

Man hatte von Anfang an das Gefühl, dass an diesem Tag etwas Neues entstehen würde. Das perfekte Sommerwetter sorgte für gute Laune, Kaffee und Gipfeli erfreuten den Gaumen und die Begrüssungsrunde, animiert durch Chorleiter, Komponist und Organist Dominik Nanzer, erheiterte das Gemüt und öffnete Geist und Herz für all die Informationen, die in den kommenden Stunden auf die 35 Tagungsteilnehmer zukommen würden.

Theologe und Coach Christoph Walser präsentierte in seinem Referat acht Diagnosen zur kränkelnden Männerarbeit in der Kirche. | Foto: Christian Breitschmid
Allein schon wegen der drei Impulsreferate am Vormittag hätte sich die Teilnahme an dieser Tagung gelohnt. Im ersten Vortrag zeigte der reformierte Theologe, Coach und Trainer für Lifebalance und Burnoutprävention, Christoph Walser, auf, was es in Sachen Männerarbeit in der Schweiz für Angebote gibt und wie schlecht diese Angebote wahrgenommen werden. Er stellte im Folgenden acht Diagnosen vor, die schlüssig erhellten, woran die Männerarbeit im kirchlichen Kontext krankt. Im Zentrum stehen dabei vor allem zwei seiner Diagnosen. Erstens: «Männerspiritualität in Gruppen wird in der Schweiz weitgehend am Rand und ausserhalb der Kirchen gelebt und von privaten Anbietern organisiert.» Zweitens: «Auf kantonaler und nationaler Ebene sowie auf Ebene Bistum kommen Männerarbeit und Männerseelsorge als eigenständige Bereiche bzw. Begriffe nicht vor. Gender und Gleichstellung scheinen in den Kirchen nach wie vor Frauenfragen und Frauensache zu sein.»

Und selbst wenn das Interesse an spezifischen Angeboten da wäre, so fehlt es an der institutionellen Verankerung derselben mit Stellen und entsprechenden Ressourcen. Walser fasste das pekuniäre Problem der institutionalisierten Männerarbeit in den Kirchen sehr bildlich in einen Satz: «Sehr viele Gelder sind gebunden in Beton und nicht in Menschen.»

Rhetorische Munition

Markus Theunert, Gesamtleiter des Dachverbandes männer.ch, machte klar, dass es die kirchliche Männerarbeit braucht. | Foto: Christian Breitschmid
Markus Theunert, Gesamtleiter des Dachverbandes Schweizer Männer- und Väterorganisationen männer.ch und Programmleiter von MenCare Schweiz, fragte sich in seinem Referat: «Männerarbeit im kirchlichen Kontext: Wozu eigentlich und wenn ja, wie?» An Antworten fehlte es dem Organisations- und Strategieberater aus Zürich mitnichten. Theunert machte deutlich, dass Männer – ungeachtet aller Unterschiede – in einem verbunden wären, nämlich im Zwang, ein männliches Selbstverhältnis herzustellen. Dabei seien sie gezwungen, sich auf dysfunktionale Normen zu beziehen, weil die vorherrschenden Männlichkeitsnormen in vielfältiger Weise dysfunktional seien. Die Männerarbeit benenne, kritisiere und transformiere diese dysfunktionalen Männlichkeitsnormen.

Mit seinem didaktisch perfekt aufgebauten und stringenten Vortrag lieferte Theunert den Tagungsteilnehmern genau die rhetorische Munition, die sie in ihren Kantonen, Landeskirchen und Bistümern künftig einsetzen können, um ihre Arbeitgeber von der Notwendigkeit und vor allem Sinnhaftigkeit der Männerarbeit in der Kirche zu überzeugen. Besonders eindrücklich war seine Aussage zur Männerarbeit im kirchlichen Kontext als eine Form von Friedensarbeit: «Sie ist die Alternative zu Männlichkeitsnormen, die Argwohn, Angst und das Gefühl, immer zu kurz zu kommen, befördern – und so Rücksichtslosigkeit und Ausbeutung legitimieren.» Der Ukrainekrieg sei nichts anderes als ein Auswuchs dieser dysfunktionalen Männlichkeitsnorm.

Männer? Frauen? Diversity?

Michael Rodiger berichtete von seinen Projekten und Erfolgen in der Männerarbeit des Erzbistums Freiburg. | Foto: Christian Breitschmid
Ein Blick über den Rhein machte deutlich, dass das Angebot einer spezifischen Männerseelsorge einem echten Bedürfnis entspricht. Theologe Michael Rodiger vom Referat Frauen-Männer-Gender des Erzbischöflichen Seelsorgeamts in Freiburg im Breisgau präsentierte in seinem Vortrag die inspirierende Vielfalt an Projekten, Gruppierungen und Veranstaltungen, die allein schon in dieser Diözese vom Bischof gefördert und unterstützt wird. Rodiger betonte zwar, dass diese reiche Angebotspalette dem Umstand zu verdanken sei, dass in Deutschland die Bistümer selber über die Kirchensteuergelder verfügen dürften, nicht wie in der Schweiz, wo die Steuergelder primär in den Kirchgemeinden verbleiben. Aber dafür müsse man in Deutschland den jeweiligen Bischof davon überzeugen können, dass Männerarbeit, wie Frauenarbeit und jede Art der geschlechterspezifischen Seelsorge, zu den Grundaufgaben der Kirche gehöre.

Die Eindrücke und Informationen aus den Referaten befruchteten die Gespräche während des anschliessenden Mittagessens, das im Park des Bullingerhauses eingenommen wurde, nachhaltig. Da kam die Podiumsdiskussion zum Auftakt in den Nachmittag gerade recht: «Männer? Frauen? Gender und Diversity? Braucht es noch eine geschlechterspezifische Arbeit in den Kirchen?» Unter der Moderation von Tagungsleiter Bernhard Lindner, Fachstelle Bildung und Propstei der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau, diskutierten zu diesem Fragenkomplex Susanne Andrea Birke (Fachstellenkollegin von Lindner und zuständig für den Bereich Frauen* und Gender), Pfarrerin Sabine Scheuter (Personalentwicklung und Diversity, Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich), Markus Theunert (männer.ch) und Daniel Ammann (Tagungsleiter, Seelsorger und Mitglied des Mannebüros Luzern manne.ch.)

Vernetzung tut Not

Zur Frage nach der Notwendigkeit geschlechterspezifischer Arbeit in den Kirchen wurden die Podiumsteilnehmer vom Plenum recht gefordert. | Foto: Christian Breitschmid
Entgegen üblicher Podiumserfahrungen, wo Experten einen mehr oder weniger packenden Diskurs unter sich führen, öffnete Lindner dieses Podium von Anfang an für Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum. So entstand ein spannender Austausch rund um die eingangs gestellte Frage. Obschon Sabine Scheuter der zunehmenden Umgestaltung von vormaligen Frauen- in allgemeine Genderstellen zustimmend gegenübersteht und generell den Angeboten von spezifisch geschlechtergetrennten Fachstellen nicht nachtrauert, waren die übrigen Podiumsteilnehmer klar dafür, eben gerade solche Fachstellen ganz gezielt zu fördern.

Markus Theunert betonte, dass gerade Männer oft die Männerarbeit verhinderten, denn durch diese würde das geltende System hinterfragt, in welchem Macht und Geld immer noch fest in der Hand von Männern seien. Seine nachgeschobene, wohl eher rhetorische Frage, sorgte rundum für nachdenkliches Kopfnicken: «Warum macht die Kirche da mit?» Gerade weil das römisch-katholische System der Knackpunkt sei, wenn es um Männerarbeit gehe, sei eine solide Vernetzung aller Interessengruppen notwendig, sagte Sabine Scheuter, «eine Vernetzung von Forschung und Theologie, von Theorie und Praxis».

Gründungstreffen steht

Die Vernetzung unter den Tagungsteilnehmern wurde gleich nach dem Podium in den Workshops zu den Themen «Vätersorgen – sorgende Väter», «Woher die Kraft, Mann?», «Wenn Männer die Trauer trifft…» und «Männer in Beziehung» weiter vorangetrieben und der Erfahrungsaustausch angekurbelt. Da die Teilnehmer aus allen Regionen der Deutschschweiz angereist waren, wird der Rücklauf aus all diesen Gesprächen sicher entsprechend reich ausfallen. Die Veranstalter dieser Tagung, die Römisch-Katholische Kirche im Aargau, männer.ch und die Reformierten Landeskirchen Zürich und Aargau dürfen sich in diesem übertragenen Sinne männlich auf die Schultern klopfen.

Eines der schönsten Ergebnisse dieser Impulstagung ist sicher die Tatsache, dass es weiter geht. Die Interessenten für die Fachgruppe Männerarbeit in kirchlichen Kontexten treffen sich am 13. September in Aarau, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Angedacht ist künftig eine zweimalige Zusammenkunft pro Jahr, um jeweils die nächsten Ziel zu formulieren. Die Dachorganisation männer.ch steht der Fachgruppe dabei mit den notwendigen Informationen zur Verfügung, berät und unterstützt sie bei der weiteren Vernetzung. Vielleicht stimmt es halt doch auch ein bisschen, was Herbert Grönemeyer singt: «Männer nehmen in den Arm. Männer geben Geborgenheit. Männer weinen heimlich. Männer brauchen viel Zärtlichkeit. Oh, Männer sind so verletzlich. Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich.»

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