22.07.2021

«Theologie und Musik: Das Leben Jesu» an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern
Jesu Grösse wird in der Musik erahnbar

Von Marianne Bolt

  • An der Tagung «Theologie und Musik: Das Leben Jesu», durchgeführt an der Universität Luzern, stand die Frage im Zentrum, wie Jesus von Nazareth in der Musik dargestellt wird.
  • Das Pfarreiblatt der Röm.-Kath. Kirche im Kanton Zug hat aus drei Referaten und einem Gespräch mit dem Theologen Arend Hoyer einen Beitrag generiert, den Horizonte hier wiedergeben darf.
  • Im Fokus der Tagung und im wissenschaftlichen Wirken von Arend Hoyer stand besonders das Werk des Kirchenmusikgiganten Johann Sebastian Bach


Musik kann den Menschen dort berühren, Inhalt vermitteln und dem Zuhörer, der Zuhörerin, Dimensionen eröffnen, wo Worte an Grenzen stossen. Wie hat Jesus von Nazareth Einzug gefunden in die Musik, wie wird er interpretiert? Wie «klingt» er? Gelingt es der Musik, Gottes Sohn auf eine Art und Weise erfahr- oder erahnbar zu machen, wo die menschliche Sprache die Grösse Gottes nicht mehr auszusprechen vermag?

An der Theologischen Fakultät der Universität Luzern widmeten sich Mitte Mai zahlreiche Referentinnen und Referenten während vierer Tage diesen und ähnlichen Fragen. Die Tagung «Theologie und Musik: Das Leben Jesu» war zugleich die Jahrestagung der Schweizerischen Theologischen Gesellschaft.

«Seitenstück zur Predigt»

Ein besonderes Augenmerk galt dem Wirken Johann Sebastian Bachs (1685–1750). Der Komponist war durch die lutherische Orthodoxie geprägt und wirkte während den Anfängen der Aufklärung. Der Theologe Arend Hoyer* beschreibt den Zeitpunkt von Bachs Wirken als «nahe dran an einer nur noch personalisierten Frömmigkeit, nahe dran am Zusammenbruch metaphysischer Deutungsmodelle, nahe dran am Ausschluss der Künste aus dem Kanon der grundlegenden Wissenschaften.»

Für den öffentlichen Gottesdienst hat Bach in Form von Kirchenkantaten, Festtagsoratorien sowie Passionsmusiken zahlreiche Passagen aus dem Evangelium in der Funktion eines «klingenden Seitenstücks zur Predigt» vertont. Er bediente sich dabei Auszügen aus der Heiligen Schrift sowie lyrischer Texte. Dennoch habe sich Bach nicht als Prediger verstanden, sondern als Sprachrohr der Gemeinde. «Im Erklingen des Chorals hörte sich die Gemeinde selbst singen. Es war sozusagen der Kommentar der Gemeinde als Gegenüber zum Priester-Personal», sagt Hoyer.

Die Anlehnung der Kirchenmusik an die Sonntagslesungen ist eine Entwicklung, die erst nach der Reformation eingesetzt hat. Bis dahin wurden Musiker dazu angehalten, die fixen Bestandteile der Messfeier zu vertonen, beispielsweise das Gloria oder das Kyrie.

Fünfter Evangelist oder Exeget?

Doch wie ging Bach vor? Woher kam sein Wissen, und wie gelang es ihm, die Menschen durch seine tiefe Deutung des Evangeliums mittels Wort und Melodie so stark zu berühren? Darf von ihm gar als einem fünften Evangelisten gesprochen werden, wie Bach in der Vergangenheit schon bezeichnet wurde? «Bach schaute sich die Texte sehr genau und sorgfältig an. Er fühlte sich dem Evangelium verpflichtet, nicht seiner Hörerschaft. Ihn aber als fünften Evangelisten zu bezeichnen, ist überhöht», sagt der Theologe Arend Hoyer.

Also Bach, der Exeget? «Bach ging exegetisch vor, was in der Forschung aber als nicht erwähnenswert eingestuft wird», so Hoyer. «Durch die Untersuchung der Worte und Redewendungen bemühte sich Bach, den Wortsinn kontextbezogen erfassen zu können. Ausserdem unterzog er die Texte bereits einer Art Literarkritik. Er verglich verschiedene Bibelstellen auf ihre Widerspruchslosigkeit hin, was ein Schlüsselkriterium der damaligen Exegese war und die Einheit von Verstehen und Glauben garantieren sollte. Schliesslich verglich er seine Interpretation mit jener anderer Interpreten.»

Unausgesprochen präsent

Dem unsterblichen Johann Sebastian Bach wurde in der Leipziger Thomaskirche ein eigenes Glasfenster zugedacht. | Foto: Thomaskirche Leipzig
Während sich ein anderer Referent, der Theologe und Kirchenmusiker Jochen Arnold aus Hannover, darauf konzentrierte, wie Bach den irdischen Jesus konkret nannte – Arnold betrachtete die Bezeichnungen Arzt, Hirte, Heiland und Geliebter –, fokussierte sich Arend Hoyer auf das Unausgesprochene. Bachs Fähigkeit, Jesus anzudeuten und klingen zu lassen, auch ohne ihn namentlich zu nennen. Um eine solche Passage zu veranschaulichen, bediente sich Hoyer des vierten Satzes der Bach-Kantate BWV 17, die sich mit den zehn Aussätzigen in Lk 17,11-19 auseinandersetzt:

Einer aber unter ihnen, da er sahe, dass er gesund worden war, kehrete um und preisete Gott mit lauter Stimme und fiel auf sein Angesicht zu seinen Füssen und dankete ihm, und das war ein Samariter. (Lk 17,15-16)

Im Zentrum steht der Samariter, dessen Bewegungsabläufe melodisch auf- und absteigend hörbar gemacht werden. Und Jesus? Der einzige Hinweis auf ihn sind die drei Wörter «zu seinen Füssen». Ohne Worte erhält der Sohn Gottes dadurch aus der Perspektive des Samariters seine Gestalt. Er steht dem Samariter gegenüber, er füllt den Raum, er wird auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer spürbar. «Bach wollte Jesus durch seine Musik vergegenwärtigen. Ohne dogmatische Attribute tritt Jesus als Mensch hervor und erhält eine physische Gegenwart, um nicht zu sagen Realpräsenz», sagt Hoyer. Die Musik habe in unmittelbarer Nähe zur biblischen Botschaft und in deutender Auseinandersetzung mit ihr Gottes Gegenwart unter den Menschen erwirkt.

Auf das Unausgesprochene respektive auf das Unaussprechliche in der Musik ging auch Markus Enders, Professor für christliche Religionsphilosophie in Freiburg i. Br., in seinem Referat ein. Das Unaussprechliche sei schon als «Mysterium der Musik» bezeichnet worden. Vladimir Jankélévitch zitierend, sagte Enders: «Wo es an Worten der menschlichen Sprache fehlt, beginnt die Musik, wo die Worte aufhören, kann der Mensch nur noch singen.» Musik sei auch ein «spirituelles Mysterium angesichts des augenblickhaften Aufblitzens der Transzendenz in der Immanenz und als ‹verzauberte Zeitlichkeit›».

Grundlage war die Schöpfungsordnung

Ein nur angedeuteter Jesus – eine typische Ausdrucksweise Bachs? «Es ist eine Spielform und in dieser Kantate gewiss speziell. Andernorts erwähnt Bach den irdischen Jesus auch narrativ», sagt Hoyer. Hier sei die Andeutung eine Möglichkeit, Jesus so darzustellen, wie Bach ihn als Exegeten entdeckt und wie er den Text verstanden habe. «Für Bach war Gott bei einer andächtigen Musik allezeit präsent. Musik stand für ihn mit der Wahrheit in direkter Verbindung. Sie war in den Kosmos, in die Schöpfungsordnung eingebunden.» Als Beispiel erwähnt Hoyer den «Klang» Gottes»: «Wenn Jesu Stimme erklingt, geschieht dies in der tiefsten Tonlage, im Bass. Der Bass, die Zahl Eins, Gott. Das ist das Grundelement. Daraus entsteht Musik, die in sich stimmt und kohärent ist.»

Diese Anlehnung der Musik an die Schöpfungsordnung sei mit der Aufklärung verlorengegangen. «Musik ist viel mehr als nur Unterhaltung. Sie ist eine Sprache mit einem riesigen Potenzial», sagt Hoyer. Heute würden wir im Alltag immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass wir lediglich als Konsumenten interessant sind. Musik aber nur zu konsumieren, sei schade und am Produkt vorbeigelebt. «Im Gottesdienst oder im Konzert ist viel mehr möglich. Und zwar für sich etwas zu gewinnen oder der Musik etwas zu geben.»

Noch haben aber nicht alle Musikerinnen und Musiker die Anknüpfung der Musik an die Schöpfungsordnung vergessen. So schuf Arend Hoyer zum Schluss eine Brücke von Bachs Musik ins Heute, indem er den Jazzpianisten Nitai Hershkovits mit einer Aussage zitierte, die dieser im Rahmen der Bach-Wochen in Thun 2019 getätigt hat: «Bach improvisierte, bevor er seine Musik niederschrieb. Dabei folgte er bestimmten Regeln – er stützte seine Musik auf die Basslinie, worüber er die Harmonien und am Schluss erst die Melodie schrieb. Im Jazz funktioniert das genauso.»

*Arend Hoyer (1960) ist reformierter Gemeindepfarrer in Thalwil und Armeeseelsorger. Seine Dissertation widmete er dem Wirken von J. S. Bach.

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