26.10.2015

«Jetzt wird es spannend»

Von Marie-Christine Andres Schürch

Die Journalistin und Gerontologin Carmen Frei plädiert im Interview für kreative Ideen im Zusammenleben von Alt und Jung und verrät, wie die Generation der Babyboomer das Bild des Alterns verändern könnte.

Dossier: Die Gespräche mit hochbetagten Menschen in diesem Dossier zeigen, dass Religion und Konfession im hohen Alter unwichtiger werden. Was tritt Ihrer Erfahrung nach an deren Stelle?
Carmen Frei: Im hohen Alter bekommt die Spiritualität Raum. Die absehbare Endlichkeit wirft Fragen auf. Irgendwann ist alles Praktische erledigt und man hat Zeit zum Nachdenken. Das Bedürfnis nach Spiritualität ist stark verbunden mit der inneren Ausrichtung des alternden Menschen, es entspringt dem Wunsch, diese Erde aufgeräumt zu verlassen.

Könnte die Kirche die Menschen da abholen?
Die Kirche hat ihre Chance in der Suche nach Gemeinschaft und Sinn. Es geht doch darum, sinnerfüllt alt zu werden und dazu sind vor allem Begegnungen wichtig. Leider hat sie das enorme Potenzial noch nicht erkannt, das die demografische Entwicklung bietet: Die Babyboomer – die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1955 und 1964 – werden in den nächsten 30, 40 Jahren ins hohe Alter kommen und sie werden das Altern neu erfinden müssen. Sie darin zu unterstützen, kann auch Aufgabe der Kirche sein.

Was heisst das konkret?
Es braucht das aktive Zusammengehen aller Generationen. Kindertagesstätten, angegliedert an Alters- und Pflegeheime, sind bereits gang und gäbe. Das gibt eine gute Nähe von sehr alten und sehr jungen Menschen. Ausserhalb der Institutionen braucht das Miteinander der Generationen Ansprechpersonen und Animation. Das ist anstrengend, aber es lohnt sich. Jetzt ist Zeit für kreative Ideen.

Welche Ideen liegen in der Luft?
Die nächste Generation der alternden Menschen wird noch länger zu Hause wohnen wollen. Deshalb sind neue Familien-Businessmodelle gefragt. Zum Beispiel, indem der Enkel in seinen Semesterferien – statt in der Migros Regale aufzufüllen – die Grosseltern betreut und von der Familie dafür bezahlt wird. Das schafft Verständnis füreinander. Auch technische Errungenschaften werden alternde Menschen in ihrer Selbständigkeit unterstützen. Unser Umgang mit dem Altern wird sich markant wandeln.

Welche Entwicklungschancen zeichnen sich ab?
Es bildet sich in den kommenden Jahrzehnten eine Blase, ein vorübergehendes, starkes Übergewicht an alten und hochaltrigen Menschen. Danach wird das Generationenverhältnis wieder ausgeglichen sein. Bis da können die alternden Babyboomer viel bewirken, denn die Masse kann etwas verändern. Es ist beispielsweise viel einfacher, sich mit dem Rollator auf der Strasse zu zeigen, wenn die Nachbarn auch damit unterwegs sind. Wenn viele etwas tun, wird es rasch normal. Das Verhalten der zukünftigen Generation Alter darf durchaus schräg und aufmüpfig sein. Ich hoffe sogar, dass es so wird. Wenn wir in 30 Jahren sagen können: «Diese Vorbilder haben uns zu einen lebenswerten Altern befähigt.», dann haben die Babyboomer der Gesellschaft einen grossen Dienst erwiesen.

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