01.08.2014

Kinder finden eigene Bilder

Von Anne Burgmer

«Schon länger hatte die Ente so ein Gefühl. ‚Wer bist du – und was schleichst du hinter mir her?‘ ‚Schön, dass du mich endlich bemerkst‘, sagte der Tod. ‚Ich bin der Tod.‘» So beginnt eines der nachdenklichsten und schönsten Bilderbücher über den Tod: Ente, Tod und Tulpe. Ein Buch, das Kinder wie Erwachsene gleichermassen berührt. Weil es behutsam und offen mit einem Thema umgeht, über das kaum einer nachdenkt oder spricht. Besonders nicht vor Kindern. Doch warum eigentlich?

Malin ist acht Jahre alt, als sie den Sarg für ihren 2010 verstorbenen Bruder Till, damals 10-jährig, nicht nur anmalt, sondern kurzerhand in «Regenbogenhülle» umtauft. Weil sie das Wort Sarg hässlich findet. Heute ist Malin eine aufgeweckte 12-jährige, die malt, während ihre Mutter Kerstin Birkeland die Geschichte von Till erzählt. Eine Geschichte, die zeigt, wie eine Familie mit vier Jahren Krebserkrankung, Tod, Trauer und Abschied umgehen kann: offen, unbefangen und im positiven Sinne eigenwillig.

Besser loslassen
Ungewohnt auch die Äusserung von Veronica Ernst, Hebamme in Brugg: «Vielen Eltern ist nicht bewusst, dass sie frühverstorbene Kinder mit heim nehmen dürfen. Zum Abschied nehmen. Für Eltern und ältere Geschwister kann es heilsam sein, wenn sie das Baby, «dass stillgeboren wurde», pflegen dürfen. Darauf haben sich alle über Monate gefreut. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Eltern und Kinder besser Loslassen können, wenn sie mutig wenigstens diese kurze Zeit mit dem Kind verbringen.».

Zumutung und Tabu
Der Tod ist für ganz viele von uns ein tabuisiertes Thema. Kinder aber kennen meist kein Tabu. Und Kinder merken zuverlässig, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Deshalb ist es wichtig, offen und ehrlich mit ihnen über das Thema zu sprechen. Daniel Münger, Kinderarzt, Kinderpsychiater und zugleich der leitende Oberarzt der Kinder- und Jugendklinik am Kantonsspital Aarau differenziert weiter: «Es sind zwei Themen. Einmal die grundsätzliche Haltung: Mute ich einem Kind etwas zu oder verheimliche ich? Die Tendenz, zu verheimlichen, ist gross und liegt oft in fehlendem Wissen über die Fähigkeiten von Kindern. Ich sage da, wir können den Kindern sicher mehr zutrauen. Das andere ist der individuelle Fall: Da muss ich fragen, ob es vielleicht bereits traumatische Verlusterlebnisse in einer Familie gab. Zudem wird das Alter entscheidend. Es ist ein Unterschied, ob es um einen Zweijährigen oder einen 15-Jährigen geht.» Dass Erwachsene den Kindern mehr zumuten können als häufig angenommen, ist eine Überzeugung, die nicht nur Daniel Münger teilt. Auch Veronica Ernst und Kerstin Birkeland haben diese Erfahrung gemacht. Doch es braucht grosse Achtsamkeit. Das Thema will behutsam ertastet werden mit guter Begleitung für die Trauernden.

Gut zuhören
Im eingangs erwähnten Bilderbuch unterhält sich die Ente mit dem Tod. «Manche Enten sagen, dass man zum Engel wird und auf einer Wolke sitzt und runter auf die Erde gucken kann», erklärt sie. Der Tod hält das für möglich. «Kinder verstehen bis zu einem gewissen Alter nicht, was ‚tot sein‘ bedeutet. Sie haben eigene Vorstellungen davon, finden eigene Bilder und Ideen für das, was es mit Sterben, Tod und dem ‚Danach‘ auf sich hat. Darauf sollte man unbedingt hören», betont Veronica Ernst. Sie benutzt meist Tierbücher zum Thema, gibt damit aber auch den Eltern ein Hilfsmittel an die Hand.

Sprachlos und betroffen
Kerstin Birkeland war es wichtig, dass «wir ein Familienklima schufen, in dem Till und Malin alles fragen und sagen durften. Wir haben zugehört, nachgefragt. Wir konnten beiden gerecht werden, obwohl sie völlig unterschiedlich mit der Situation umgingen.» Daniel Münger erlebt bei seiner Arbeit im Spital, dass die Patienten und deren Geschwister unglaubliche Bilder finden. Er erinnert sich an einen Regenbogen, der «einerseits Fröhlichkeit und andererseits Traurigkeit ausstrahlte. Ein Übergangssymbol.» Doch Daniel Münger betont: «Wir versuchen, nicht zu viel zu interpretieren.». Die Kunst, Tod und Trauer behutsam in Worte und Bilder zu bringen, alles Nachfragen und Zuhören, stösst irgendwann an Grenzen. Verliert eine Familie ein Kind, bleiben Geschwister und Eltern in Trauer zurück. Es ist unmöglich, allen gerecht zu werden. «Wenn ein Kind sich verabschiedet, ist das eine der schwersten Situationen überhaupt. Da erreichen wir einen Punkt, wo wir ehrlicherweise sagen müssen, das wir sprachlos und mitbetroffen sind», sagt Daniel Münger nachdenklich. Es heisst dann, die «Ohnmacht» mit aushalten, innezuhalten und dann durch Handlungen und Gespräche den Trauerprozess heilsam zu gestalten.

Und danach?
Bleibt die Frage nach dem Glauben. Der Tod trifft jeden; er ist konfessionslos und nimmt keine Rücksicht auf religiöse Überzeugungen. Gehen Familien mit Trauer und Abschied anders um, wenn sie gläubig oder konfessionell eingebunden sind? Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Veronica Ernst bestätigt: «Eltern, die eine Jenseits-Vorstellung haben – egal wie diese aussieht – leiden oft weniger an der Frage, ob es das Kind jetzt gut hat, wo es ist. Sie sind davon überzeugt und das hilft ihnen.» Till, aufgewachsen in einer kirchenfernen Familie, wünschte sich irgendwann die Taufe. Kerstin Birkeland erklärt, dass «er hat im Himmel mehr gesehen, als wir, wollte mit ihm verbunden sein. Und Malin lies sich ebenfalls taufen. Als Verbindung zu Till».

Anne Burgmer

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