04.02.2016

Kirche muss Finger in offene Wunden legen

Von Vera Rüttimann

Mit der Konzernverantwortungsinitiative unterstützten die kirchlichen Hilfswerke Fastenopfer und Brot für alle während ihrer Ökumenischen Kampagne erstmals eine Volksinitiative. Sollen sich die Hilfswerke und die Kirchen politisch einmischen? Dazu äussert sich Leo Karrer, emeritierter Professor für Pastoraltheologie der Universität Freiburg, im Interview.

Herr Karrer: Wieso sollen kirchliche Werke die Konzernverantwortungsinitiative unterstützen?
Leo Karrer:
Das Motto «Verantwortung tragen – Gerechtigkeit stärken» ist aktueller denn je. Man muss nur die Zeitung aufschlagen. Fälle wie Glencore zeigen es ja: Der Schweizer Rohstoffkonzern, der im Kongo zwei Tochtergesellschaften besitzt, die Erze abbauen, investiert gemäss Recherchen der hiesigen Hilfswerke kaum in den Umweltschutz vor Ort. Darum finde ich, Hilfswerke und katholische Verbände verdienen Unterstützung, wenn sie Sensibilisierungsarbeit leisten für Konfliktherde und Partei ergreifen für Menschen, die keine Lebensentfaltungsmöglichkeiten haben, weil sie behindert werden durch Geld, Strukturen oder die Spielregeln eines zügellosen Marktes.

Es gibt Leute, die sagen: Entwicklungsorganisationen und die Kirche sollen sich nicht an gesellschaftspolitischen Debatten beteiligen. Woher rührt diese Kritik?
Schon als sich die Kirche in die Debatte um die Banken- und die Minarett-Initiative einmischte, wurde sie dafür scharf kritisiert. Ich kenne die Argumente von Kritikern, die betonen, sie soll sich um die Einzelseelsorge kümmern und sich aus der Politik heraushalten.

Geben Sie diesen Argumenten Recht?
Nein. Die Kirche muss die Finger auf offene Wunden in der Gesellschaft legen. Es braucht ihre Stimme, wenn es um heisse Eisen wie Flüchtlinge, Klima-Erwärmung oder religiös motivierten Terror geht. Sie darf sich nicht in die privat-esoterische Ecke zurückziehen. Mir ist natürlich bewusst: Wer sich einsetzt, setzt sich aus. Das kann unbequem sein und erfordert Courage. So fand ich es gut, dass diesen Sommer über 100 Theologinnen und Theologen die Migrationscharta unterzeichneten. Ich wünsche mir, dass sich die Kirche in der Gesellschaft vermehrt mit eigenen Themen positioniert. Die Kirche sollte meines Erachtens eine Doppelstrategie anstreben.

Und wie könnte diese Strategie aussehen?
Erreichbar sein für den einzelnen Menschen, kritisch-prophetisch präsent sein in der Gesellschaft. Diesbezüglich beziehe ich mich auf den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der sagte: «Kirche ist nur Kirche, wenn sie Kirche für andere ist.»

Wie sehen Sie dabei die Rolle von Papst Franziskus?
Papst Franziskus ist für viele eine prophetische Stimme, die dazu motiviert, den Blick auf die relevanten Themen der Zeit zu richten. Ich denke dabei an seine grossartige Enzyklika «Laudato si», die durchdrungen ist vom Aufruf an uns, sich für Menschenrechte stark zu machen.

Welche ethisch-theologischen Begründungen sprechen für ein politisches Engagement der Kirche?
In ihrer Soziallehre hat sich die katholische Kirche immer wieder für die Anliegen stark gemacht, die nun auch die Konzernverantwortungsinitiative verfolgt: menschenwürdige Bedingungen, Solidarität und Bewahrung der Schöpfung. Wenn ich an meine Enkel und an künftige Generationen denke, ist es mir ein Anliegen, die Erde bewohnbar zu erhalten. Kirche ist viel mehr als nur eine Interpretationsgemeinschaft des Glaubens – sie ist eine international vernetzte Solidargemeinschaft. Der Einsatz für die Konzernverantwortungsinitiative ist deshalb eine konkrete Chance, aus der reinen Binnenschau, in der sie sich manchmal befindet, herauszukommen und sich den Herausforderungen im Jetzt zu stellen.

 

Die Konzernverantwortungsinitiative
Die Schweiz spielt im globalisierten Goldgeschäft ganz vorne mit. Mit Gold werden Milliarden umgesetzt. Doch diese Industrie glänzt oft nur an der Oberfläche. Im Fokus der Ökumenischen Kampagne 2016 «Verantwortung tragen – Gerechtigkeit stärken» steht deshalb der Goldabbau. In Burkina Faso beispielsweise raubt der Abbau vielen Menschen die elementaren Lebensgrundlagen. Niemand übernimmt dafür die Verantwortung. Darum haben die kirchlichen Hilfswerke Brot für alle und Fastenopfer gemeinsam mit über 70 Organisationen die Konzernverantwortungsinitiative initiiert. Diese verpflichtet die in der Schweiz ansässigen multinationalen Konzerne, die Menschenrechte überall auf der Welt einzuhalten.

www.sehen-und-handeln.ch
www.fastenopfer.ch/konzernverantwortung

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