06.07.2013

Laufen ist Leben

Von Horizonte Aargau

Diesen Sommer ist Horizonte sportlich unterwegs. In Laufschuhen, mit dem Rad und auf der Yoga-Matte zeigt das Aargauer Pfarrblatt, wie «Glaube bewegt». In drei Teilen können die Leserinnen und Leser in unterschiedliche Welten eintauchen. Den Auftakt macht Kadi Nesero, der als minderjähriger Asylant in die Schweiz kam. Heute gehört der 26-jährige zu den schnellsten Läufern im Land.

Erst ein einziges Mal musste er aufgeben. Es war im August 2004. Der Asphalt glühte. Und Kadi Nesero trug keine richtigen Turnschuhe. Drei Monate zuvor war er aus Äthiopien in die Schweiz gekommen, als Flüchtling. Er konnte weder mit den Menschen hier sprechen, noch ihre Mentalität verstehen. Das Einzige, was er konnte, war laufen. So meldete er sich für einen Volkslauf im Aargau an. Aber eben, ohne richtige Turnschuhe lief er das Rennen nicht zu Ende.

Langer Weg zu neuer Sprache
Heute gehört der 26-jährige Kadi Nesero zu den besten Läufern in der Schweiz. Auf Mittel- und Langstrecken ist er regelmässig unter den Top Ten zu finden. Laufschuhe und –kleider bekommt er von seinem Sponsor und die Trainingspläne schickt ihm sein Trainer aus Genf. Er trainiert mit dem BTV Aarau und im Leistungszentrum von Swiss Olympic in St. Moritz. Jeden Nachmittag büffelt er im Schulzimmer von lingua nova deutsche Vokabeln und Grammatik, ein Gespräch auf Hochdeutsch kann er inzwischen problemlos führen. Aber der Weg dahin war lang und holprig.

Start in neues Leben mit Kulturschock.
«Schwarz ist schwarz, für viele Leute hier», sagt Kadi Nesero und spricht damit die Vorurteile an, mit denen er konfrontiert wurde. Das Fussfassen in der Schweiz war schwierig, der Wechsel von Addis Abeba nach Aarau ein Kulturschock. Kadi Nesero wuchs im Hochland von Äthiopien, 3000 Meter über Meer, auf. Sein Vater betreibt eine Farm mit viel Land, auf dem Kühe, Pferde und Schafe grasen. «Das Leben ist ganz anders als hier», erzählt Kadi Nesero, «keine Autos, keine Busse – wir gingen immer zu Fuss.» Seinen langen Schulweg legte er ebenfalls laufend zurück. Während seiner Schulzeit begann er mit dem Bahntraining, war Mitglied im Laufteam seiner Highschool. Dann aber nahm er als 17-jähriger Wirtschaftsstudent an der Uni von Addis Abeba an einer Demonstration gegen die äthiopische Regierung teil. Darauf drohte ihm Gefängnis. Zusammen mit ein paar Kollegen flüchtete er zuerst nach Kenia, später, mit Hilfe von Verwandten in den USA, in die Schweiz. Als minderjähriger Asylbewerber musste er hier ein neues Leben beginnen.

Integration im Verein
Durch den ersten missglückten Wettkampf liess er sich nicht entmutigen. Bald nach seiner Ankunft begann er wieder zu trainieren und stand schon im November desselben Jahres erstmals auf einem Podest. Seit da läuft Kadi Nesero an Wettkämpfen in der ganzen Schweiz regelmässig unter die ersten zehn. Viermal gewann er bisher den Bremgarter Reusslauf und dreimal den Limmatlauf in Baden. Vor ein paar Jahren trainierte er gerade im Fitnesscenter, als ihn ein Mann ansprach und fragte, ob er denn in einem Verein dabei sei. Als Kadi Nesero verneinte, lud er ihn ein, im BTV Aarau vorbeizuschauen. «In meinem Verein bin ich voll integriert, die Leute sind nett, ich lerne viel», sagt Kadi Nesero. Das Glück ist gegenseitig, denn auch der BTV Aarau profitiert von seinem Spitzenläufer. Neulich an den Vereinsmeisterschaften in Lausanne sicherte Kadi Nesero seinem Verein mit dem Sieg im 3000-Meter-Lauf den Ligaerhalt.

An sich glauben
«Nicht nur die Füsse laufen, sondern auch der Kopf», sagt Kadi Nesero mit Nachdruck. Während die Beine sich bewegen, purzeln auch die Gedanken im Kopf: «Soll ich angreifen? Wo? Oder soll ich den besser gehen lassen? Endspurt schon jetzt anziehen?» Während eines Wettkampfes denke er nicht über sein Leben nach, denn da stehen die taktischen Überlegungen zuvorderst. Kadi Nesero beobachtet die Konkurrenten, konzentriert sich auf die Strecke, auf seinen Körper. Er hält nichts davon, sich vor einem Rennen verrückt zu machen und unter Druck zu setzen. Gut laufe es für ihn meist dann, wenn er sich sage: «Ich schaue, was heute drinliegt.» Auch von berühmten Konkurrenten, die neben ihm an der Startlinie drängeln, lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen. Kadi Nesero glaubt an sich und seine Fähigkeiten: «Ich bin zwar stolz, wenn Haile Gebrselassie neben mir startet, aber ich bin Kadi, ich muss für mich schauen.» Am diesjährigen Grandprix von Bern kam er als Zehnter 50 Sekunden hinter dem Weltklasseläufer ins Ziel.

Der Traum von Olympia
Laufen ist Leben. So einfach formuliert Kadi Nesero seine Motivation, immer und immer wieder zu laufen. Die Bahntrainings, für die es jetzt im Sommer schon um sieben Uhr morgens fast zu heiss ist, die Kilometer auf dem Kiesweg an der Aare und die Höhentrainings in St. Moritz erfüllen ihn mit Freude. Sein Traum, an Olympischen Spielen oder an Weltmeisterschaften zu gewinnen, verleiht ihm zusätzlichen Schub. Sich als Äthiopier für die Olympischen Spiele zu qualifizieren ist ungleich schwieriger als für einen Schweizer, weil so viele Läufer die erforderliche Limite unterbieten. Dafür ist eine Olympia-Medaille in Äthiopien so etwas wie eine dritte Säule bei uns, wer sie hat, kann in Ruhe alt werden. «Als Olympiasieger bist du in Äthiopien lebenslang ein Vorbild», sagt Kadi Nesero. Dann könnte er vielleicht auch zurückkehren in sein Land, in dem er seit fast zehn Jahren nicht mehr war. Wenn er erzählt vom Leben auf der elterlichen Farm, vom Kühemelken, von der Weite der Weiden und von der Grossmutter, die ein ganz besonderer Mensch für ihn war, klingt seine Stimme noch eine Spur lebendiger.

Halbmarathon in 62 Minuten 
Um seinem Olympischen Traum näher zu kommen, setzt er sich Zwischenziele. Diese Saison etwa will er den Halbmarathon in 62 Minuten laufen. Er weiss, dass er das schaffen kann, wenn er fit ist und die Strecke flach. «Ich laufe lieber flach als hügelig, weil ich viel Speed habe aber nicht so muskulöse Oberschenkel», sagt der eher klein gewachsene Läufer. Am besten geeignet wäre für die persönliche Halbmarathon-Bestzeit der Greifenseelauf im September, meint er. Oder dann ein Rennen in Holland. Mit seinem F-Ausweis kann er auch an Wettkämpfe im Ausland reisen, die Reisekosten bezahlen meist die Organisatoren. So läuft er immer wieder auch in Spanien und Italien.

Akzeptanz nur mit Arbeit
Eigentlich lebt Kadi Nesero wie ein Profi, der Grossteil des Tages besteht aus Training. Trotzdem würde er gerne arbeiten und lernt deshalb auch jeden Nachmittag Deutsch in der Sprachschule. «In anderen Ländern müsste ich mit diesen Leistungen nicht arbeiten, aber hier gehört eine Arbeit einfach dazu.» Er spürt: Akzeptiert werden und Dazugehören ist leichter, wenn man eine Arbeit hat. Kadi Neseros Wunsch ist, dass er gesund bleibt und weiter laufen kann. Deshalb hört er auf seinen Körper. Und wenn der müde ist, macht er auch mal eine Pause. Motivationstiefs kennt auch ein Spitzenläufer, meist handle es sich aber nur um Anlaufschwierigkeiten, nach einer Viertelstunde Bewegung kehre die Freude am Laufen regelmässig zurück, erzählt Kadi Nesero. Und er fügt an: «Laufen ist meine Lieblingssache.»
Marie-Christine Andres

Themen Impulse
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