31.03.2016

Lernen auf der Flucht

Von Stefan Gribi

Während der syrische Konflikt ins sechste Jahr geht, zeichnet sich für die Zukunft nach dem Krieg ein Problem von grosser Tragweite ab: 700 000 Flüchtlingskinder besuchen keine Schule. Die Geschwister Kader (9) und Layla (7) profitieren im Libanon von einem Schulprojekt der Caritas, das diesem Missstand entgegenwirkt.

Früher war es ein Geräteschuppen, seit vier Jahren ist es das Zuhause der Flüchtlingsfamilie Ayed (Name zum Schutz der Betroffenen geändert). Zwölf Quadratmeter müssen ihr als Lebensraum genügen. Das Wenige, das sie besitzen, ist aufgeräumt an seinem Platz, der Holzofen spendet Wärme, Mutter Fadmah Ayed versucht nach Kräften, Wohnlichkeit herzustellen. Dass ihre Kinder nicht mehr den ganzen Tag hier verbringen müssen und zur Schule gehen können, ist eine Erleichterung. «Zu Hause ist es für sie wie in einem Gefängnis», so die Mutter.

Französisch als Schulsprache
Fadmah Ayed sitzt auf einer Matratze am Boden, die tagsüber als Sofa und nachts als Bett dient. Sie hält ihr drei Monate altes Baby auf dem Arm und hilft der Tochter, ein arabisches Gedicht auswendig zu lernen. «Layla ist sehr gut in der Schule», erzählt sie stolz. Die Mutter hat in Syrien sieben Jahre die Schule besucht und dabei auch etwas Englisch gelernt. Im Libanon aber ist Französisch die Schulsprache. «Leider kann ich den Kindern nicht helfen bei den Hausaufgaben, weil ich kein Französisch verstehe», sagt sie bedauernd, denn die Bildung der Kinder ist ihr ein grosses Anliegen.

Libanesen greifen syrische Flüchtlinge an
Dass die muslimische Familie im Libanon ausgerechnet im christlichen Dorf Kartaba Zuflucht fand, wo es im Winter auf 1 200 Metern empfindlich kalt wird, war kein Zufall. Vater Wael Ayed verdiente hier schon in den Jahren vor dem Krieg jeweils im Sommer als Arbeiter in den Apfelplantagen sein Geld. «Als unser Dorf in der syrischen Heimat bombardiert und unser Haus geplündert wurde, habe ich die Familie hierher gebracht», sagt er. Das Zusammenleben im Dorf läuft nicht immer konfliktfrei. Vor einigen Monaten hätten im Dorf ein paar Männer syrische Flüchtlinge angegriffen und verprügelt, erzählt Wael. Ein Grund für Spannungen liegt darin, dass die Verdienstmöglichkeiten schlechter sind als vor dem Krieg. Das Zahl der Arbeitskräfte übersteigt die Nachfrage bei weitem – inzwischen bewerben sich auch die heranwachsenden Söhne um Arbeit in den Plantagen.

Don Bosco-Schwestern unterrichten Flüchtlinge
Kader und Layla gehören zu den Kindern, die im Rahmen eines Projektes der Caritas die Schule besuchen können. Mit dieser Unterstützung hat die örtliche Primarschule, die von Schwestern des Don Bosco-Ordens geführt wird, im letzten Herbst ihre Tore für alle syrischen Flüchtlingskinder geöffnet. Nun kommen doppelt so viele Schülerinnen und Schüler zum Unterricht. Eine grosse Herausforderung, wie Schwester Georgette berichtet: «Wir haben zusätzliche Lehrerinnen eingestellt, die Klassen vergrössert, Schulbänke angeschafft, das Computerzimmer in ein Klassenzimmer umfunktioniert», erzählt die über 70-jährige Schulleiterin. Sicher ging es am Anfang recht turbulent zu und her, aber grössere Konflikte gab es kaum. «Wir behandeln alle Kinder gleich, sie haben die gleiche Schuluniform, die gleichen Bücher, die gleiche Unterstützung. Sie gehören alle zusammen!»

Zweischichtenbetrieb an den Schulen
Nicht nur in Kartaba, im ganzen Land ist eine Offensive im Gang, um möglichst viele syrische Kinder in die Schule zu integrieren. In öffentlichen Schulen fanden im Jahr 2015 zusätzlich 200 000 Kinder einen Platz. Dazu wurden an vielen Orten Zweischichtbetriebe eingerichtet: Morgens gehen die einheimischen Kinder zur Schule, nachmittags die Flüchtlingskinder. So konnte die Einschulungsquote markant erhöht werden. Das öffentliche Schulsystem stösst aber an seine Grenzen, daher ist es wichtig, dass auch private Schulen mit der Unterstützung von Organisationen wie der Caritas mehr Kinder aufnehmen können. Das regionale Projekt der Caritas ermöglicht 2 500 Flüchtlingskindern im Libanon und in Jordanien Zugang zur Schule.

Lehrpersonen lernen, wie man traumatisierte Kinder unterrichtet
«Flüchtlingskinder leben im permanenten negativen Stress. Sie haben Lernlücken und Schwierigkeiten mit dem Erinnern, und beides beeinträchtigt das Lernen. Formales Lernen ist für Flüchtlingskinder eine wahnsinnige Anstrengung», sagt die Pädagogin Beatrice Rutishauser, die seit vielen Jahren für die Caritas in Krisengebieten Bildungsprojekte durchführt. Das Projekt im Libanon und in Jordanien legt daher auch einen Fokus darauf, dass die eingeschulten Kinder in der Lage sind, dem Unterricht zu folgen und Unterrichtsinhalte aufzunehmen. Die Lehrerinnen und Lehrer werden speziell ausgebildet darin, wie sie auf die Situation von kriegstraumatisierten Kindern eingehen können.

Lernen oder heiraten
Wie wichtig Schulbildung ist, erläutert Jean Khoury, Kommunikationsleiter bei Caritas Libanon: «Wenn diese Kinder keine Chance erhalten, die Schule zu besuchen, tragen sie ein hohes Risiko für eine frühe Heirat. Sie werden selbst sehr jung Kinder bekommen und nicht in der Lage sein, für diese zu sorgen. Das Problem überträgt sich auf die nächste Generation.» Kader und Layla dürfen dank dem Schulbesuch auf eine bessere Zukunft hoffen.

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