25.02.2021

In der Coronakrise benötigen Pflegefachleute ganz besondere Pflege
«Man muss in Spannung bleiben – ​sich aber nicht verspannen»

Von Christian Breitschmid

  • Die Coronakrise hat einmal mehr gezeigt, wie unverzichtbar gut ausgebildetes Pflegepersonal in Spitälern und Heimen ist.
  • Doch wer pflegt die Pflegerinnen und Pfleger, wenn die Krise weiter anhält und niemand da ist, der das erschöpfte Personal ablösen kann?
  • Horizonte hat im Kantonsspital Baden und im Reusspark Niederwil nachgefragt.


Plötzlich standen sie im Rampenlicht, die rund 220’000 Frauen und Männer, die sich in der Schweiz um Kranke und Betagte kümmern. Als das Coronavirus im vergangenen Jahr zu wüten begann und die Infektions- und Hospitalisierungszahlen dramatisch anstiegen, da wurde auf einmal über sie berichtet, über all die Pflegefachpersonen, Fachleute Gesundheit, Pflegehelfer wie auch Assistenten Gesundheit und Soziales, die vor dem drohenden Kollaps des Gesundheitssystems in stiller Überzeugung zusammenstanden und bis an die Grenzen ihrer eigenen Kräfte gingen, um die Leben anderer Menschen zu schützen.

Unter dem Schock der ersten Pandemiewelle entwickelte sich in der Bevölkerung ein starkes Bewusstsein dafür, welche Sonderleistungen das medizinische Personal in den Spitälern, Kliniken und Heimen in diesem Land aber auch weltweit erbrachte. Als Zeichen der Anerkennung wurden brennende Kerzen in die Fenster gestellt, es gab rund um den Globus Aktionen, bei denen die Menschen aus Dankbarkeit für den unermüdlichen Einsatz der Ärzte und Pfleger sangen und applaudierten. Die Bilder davon sorgten via Social Media und auch über offizielle Medienkanäle für ein weltumspannendes Wirgefühl.

Zu wenige Diplomierte

Schon während dieser Zeit der öffentlichen Belobigungen meldeten sich immer wieder Vertreterinnen der Pflegefachbranche – nach wie vor arbeiten zu mehr als 90 Prozent Frauen in der Gesundheits- und Krankenpflege – zu Wort, die darauf hinwiesen, dass leuchtende Kerzen und Applaus zwar wohltuende Zeichen der Anerkennung seien, dass dadurch aber nichts am Pflegenotstand in der Schweiz geändert werde. Tatsächlich sind von den 220’000 im Pflegebereich Tätigen nur gerade 99’000 diplomierte Pflegefachpersonen.

Um Geld zu sparen, besetzen Spitäler und Pflegeheime offene Stellen oft mit günstigeren Hilfskräften. Diese können aber keine diplomierte Fachkraft ersetzen, wenn diese wegen Krankheit oder Überlastung ausfällt. Für den Pflegenotstand gibt es einen einfachen Grund: Es fehlt am Nachwuchs in dieser Branche, weil der Beruf für junge Menschen offensichtlich zu anstrengend und darum, bei vergleichsweise niedrigem Lohn, zu wenig attraktiv ist.

Seelsorger sind da

Veronika Scozzafava geht als katholische Heimseelsorgerin im Reusspark Niederwil aktiv auf das Pflegepersonal zu. | © Roger Wehrli
Diejenigen, die ihrem Beruf die Treue halten, versuchen aufzufangen, was an Zusatzarbeit durch Corona anfällt. Das belastet nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Veronika Scozzafava ist die katholische Heimseelsorgerin im Reusspark Niederwil. Bei ihren Besuchen auf den Wohngruppen spricht sie das Personal vor Ort gezielt an, denn sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich viele erst dann getrauen, über belastende Situationen zu sprechen. «Das gilt überhaupt für unsere Arbeit hier», sagt die erfahrende Seelsorgerin, «je mehr mein Kollege von der reformierten Kirche und ich präsent sind, umso mehr werden wir auch wahrgenommen. Ein schönes Erlebnis hatte ich, als ich einen Gottesdienst auf einer Station feierte und alle Pflegerinnen und Pfleger dazu kamen. Einer von ihnen ist sogar ein Muslim. Ich habe ein paar spezielle Fürbitten für sie gesprochen, und nachher kamen sie zu mir und haben sich sehr dafür bedankt.»

Spitalseelsorger Jürgen Heinze vermutet, dass das Pflegepersonal unter der Coronalast eher «im stillen Kämmerlein» leidet. | © Felix Wey
Spitalseelsorger Jürgen Heinze, der im Kantonsspital Baden arbeitet, bestätigt: «Es gibt schon vereinzelte Gespräche mit Leuten aus der Pflege. Da hört man dann auch, wie belastend die Situation für manche ist. Aber sie kommen nicht in Scharen.» In der Spitalseelsorge des KSB arbeiten neben Jürgen Heinze noch drei weitere Seelsorger. Bei ihren Patientenbesuchen kommen sie automatisch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des KSB in Kontakt, doch um seelsorgerische Betreuung werden sie dabei eher nicht gebeten. «Ich glaube schon», sagt Jürgen Heinze, «dass es bei einigen Pflegepersonen ein Leiden im stillen Kämmerlein gibt, aber das lösen sie auf individuelle Weise.»

Corona-Careteam

Viviane Perdrizat liegt das Wohlergehen des KSB-Personals als Leiterin Betriebliches Gesundheitsmanagement im Kantonsspital Baden besonders am Herzen. | zvg
«Corona wird uns wohl noch lange beschäftigen», sagt Viviane Perdrizat, Leiterin Betriebliches Gesundheitsmanagement im Kantonsspital Baden. «Man muss in Spannung bleiben – sich aber nicht verspannen.» Im KSB wusste man, was im Falle einer Pandemie auf die 2’653 Spitalangestellten zukommen würde, besonders auf die 1’024 Pflegerinnen und Pfleger im Betrieb. Darum hat die hauseigene Taskforce, ein interdisziplinäres Team mit Vertretern aus der Geschäftsleitung und verschiedenen Fachbereichen des KSB, schon im vergangenen Frühling die Einsetzung eines Corona-Careteams veranlasst. Es besteht aus Viviane Perdrizat, einer Psychologin, einem Seelsorger und einem Mitglied des Ethikforums.

Über eine eigens eingerichtete Telephonhotline konnten sich die Mitarbeiter des KSB an das Careteam wenden, wären sie im Zusammenhang mit Corona in psychische oder physische Nöte geraten. Da dieses Angebot nur auf geringe Resonanz stiess, ersetzte das Careteam die Hotline durch ein E-Mailpostfach, das aber auch wenig angeschrieben wurde. «Die meisten Anfragen betrafen ganz konkrete, vornehmlich medizinische und organisatorische Aspekte rund um das Virus», berichtet Viviane Perdrizat.

Existenzielle Fragen

Vergebens waren die Bemühungen der Geschäftsleitung aber nicht, denn diejenigen, die aufgrund der Coronapandemie doch Ängste entwickelten oder deren Privatleben auf einmal in Schieflage geriet, fanden in Viviane Perdrizat und ihrer Kollegin beim Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) kompetente Gesprächspartnerinnen, um ihre Sorgen loszuwerden und professionelle Hilfestellung zu erhalten. «Seit Januar haben sich rund 60 Personen gemeldet. Mit jeder davon wurden sicher eines, je nach Bedarf aber auch mehrere Gespräche geführt. Zwei Drittel dieser Gespräche hatten einen Coronahintergrund», resümiert die Leiterin BGM. Existentielle Fragen tauchten dabei auf, es gehe um den Umgang mit der steigenden Verantwortung, um Überforderung, körperliche und seelische Grenzen, finanzielle Sorgen, belastende familiäre Themen, um Sinnfragen – «Bin ich in dem Beruf noch richtig…?» – und um das Problem, sich selber nicht mehr gerecht zu werden.

Auf viele Fragen können die diplomierten Sozialarbeiterinnen des BGM direkt antworten oder weiterführende Kontakte vermitteln. Sie triagieren aber auch zu ihren Kollegen vom Corona-Careteam, das weiter bestehen bleibt, und stehen im Austausch mit den Personalärztinnen des Hauses. So entsteht ein tragfähiges Netz, das allen Mitarbeitern des KSB ein Gefühl von Sicherheit vermitteln kann. Viviane Perdrizat ist sich sicher: «Unterstützende Berufe werden noch lange zu tun haben, auch wenn dann das Gröbste mal überstanden ist.» ‧

Offene Kommunikation

Priska Scimonetti leitet im Pflegeheim Reusspark in Niederwil die Geriatrie. Als diplomierte Pflegefachfrau kennt sie die Bedürfnisse ihrer Berufskollegen. | zvg
Wie im KSB, setzte man auch im Reusspark Niederwil, dem grössten Pflegeheim im Aargau, von Anfang an auf eine solide Vorbereitung und eine konsequente, offene Kommunikation. «Wir informieren auf allen möglichen Kanälen», erklärt die Leiterin Geriatrie im Reusspark, Priska Scimonetti. «Wir kommunizieren über Messengerdienste, wir drehen Videos, schreiben E-Mails, und auch über den Lohnbrief erreichen die neusten Infos unsere Mitarbeitenden. Darüber hinaus haben wir unsere Covid-Krisenstabssitzung. Da werden drängende Fragen aus der Basis verarbeitet und die Antworten direkt wieder an die Basis zurückgegeben.»

Von den total 512 Angestellten des Reussparks arbeiten 340 Personen im Bereich Pflege. Die Coronapandemie ist auch für das gut geschulte Personal in Niederwil eine echte Herausforderung, denn viele der 300 Heimbewohner leiden unter dementiellen Erkrankungen, und alle gehören per se zur vulnerablen Gruppe. «Aktuell haben wir zwar keine akuten Fälle», bestätigt Priska Scimonetti, «aber es gab doch schon ein paar Fälle. Dann isolieren wir sofort die ganze betroffene Station, inklusive Personal. Das belastet die Teams schon sehr. Aber wir haben das grosse Glück, dass wir mehr Fachpersonal im Haus haben als anderswo. Unser medizinischer Dienst besteht aus einem zehnköpfigen, interdisziplinären Team aus Geriatern, Allgemeinmedizinern und klinischen Fachspezialisten. Die sind im Haus und können oftmals Fragen direkt beantworten. Zudem unterstützt uns die Infektiologie/Spitalhygiene des KSB. Ganz wichtig ist auch die Solidarität unter den Teams. Wenn ein Team in Isolation war, wurde es von den anderen Teams und der Seelsorge mit Anrufen, kleinen Briefen und Fresspäckchen unterstützt. Das hat sie psychisch enorm aufgestellt.»

Seelsorge ist vor Ort

Auch im Reusspark wurde eine Corona-Hotline für das Personal eingerichtet. Sie wurde aber, wie die im KSB, noch nicht benutzt. «Das liegt wohl auch daran», sagt Priska Scimonetti, «dass unsere Heimseelsorge von Montag bis Freitag im Haus unterwegs ist. Die beiden fangen vieles direkt vor Ort auf. Ausserdem haben wir einen Coach, der regelmässig vorbeikommt und an den sich unser Personal wenden kann, wenn es etwas bedrückt. Auch zwei Leute im Haus selber haben eine Coachingausbildung.» An professioneller Betreuung fehlt es dem Pflegepersonal im Reusspark also nicht. Wenn nun auch noch die fünf offenen Stellen für diplomierte Pflegefachleute und die sechs für Fachangestellte Gesundheit besetzt werden könnten, dann wäre ein weiteres Problem in dieser Coronakrise gelöst.

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