26.08.2021

Die Aktion «Achtsames Aarau» schärfte bei vielen Passanten Sinne und Wahrnehmung
Mit Blindenstock und Rollstuhl durch die Stadt

Von Werner Rolli

  • Am letzten Samstag, 21. August 2021, warb die Aktion «Achtsames Aarau» für mehr Achtsamkeit in den alltäglichen Begegnungen.
  • Exkursionen in der Stadt mit Augenbinde oder im Rollstuhl zeigten den Besucherinnen und Besuchern die Stadt aus neuer Perspektive.
  • Das Motto «Lauschen, schauen, erleben» sprach erfreulich viele Passanten an.

Ich fürchte, jeden Moment das Gleichgewicht zu verlieren. Rechts von mir dröhnt der Verkehr auf der Bahnhofstrasse noch lauter als sonst. Langsam setze ich einen Fuss vor den anderen, taste mit meinem Blindenstock den Boden vor mir ab. «Vorsicht, hier steht eine Parkbank», warnt mich meine Begleiterin Martina Schmid: «gleich geht’s nach rechts. Der Weg ist leicht abschüssig.» Ich höre die Erläuterungen von Hans-Ruedi Kunz, der uns auf Vogelstimmen aufmerksam macht. Er beschreibt die einheimischen Vogelarten so detailliert, dass ich mir sie vorstellen kann. Die Bilder, die er den Teilnehmern dieses kurzen Rundgangs zeigt, sehe ich allerdings nicht. Ich bin froh, nach einer halben Stunde meine Augenbinde wieder abzunehmen.

Achtsamkeit gegenüber Menschen, die anders sind

Zu verdanken habe ich meine Erfahrung den Teams der landeskirchlichen Fachstellen «Bildung und Propstei» sowie «Pastoral bei Menschen mit Behinderung», die diesen Anlass unter dem Titel «Achtsames Aarau» bereits zum zweiten Mal organisiert haben. Rund um die Igelweid ging es um Achtsamkeit. Achtsamkeit gegenüber Menschen, die anders sind, sei es aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Sprache oder ihrer Beeinträchtigung.

Was übersehe ich? Was blende ich bewusst oder unbewusst aus? Fragen, die zum Nachdenken anregen. | Foto: Werner Rolli

Unter dem Motto «lauschen, schauen, erleben» wurden Passanten eingeladen, der Klezmer-Musik des Amal-Trios zuzuhören, sich beim QiGong zu entspannen, die Brunnen der Stadt zu erkunden oder sich beim VIP-Gespräch mit Fremden auszutauschen.

Wissen statt Muskelkraft

Die Stadtführungen wurden von Therese Sommerhalder jeweils übersetzt in die Gebärdensprache. Wer den Mut aufbrachte, konnte diese Exkursionen mit Blindenstock oder im Rollstuhl miterleben. Dabei ging wohl so manchem Teilnehmer ein Licht auf. Beim Abstecher in die Stadtkirche zum Beispiel stellte sich die Frage: «Wie kann ich jemandem im Rollstuhl helfen, eine Treppe zu überwinden?» Entscheidend war schliesslich nicht die Muskelkraft, sondern schlicht das Wissen, wie und wo man am besten zupackt.

Für Isabelle Deschler war es eine spannende Erfahrung, sich im Rollstuhl durch die Stadt zu bewegen: «Zwei Dinge überraschten mich: erstens, wie schwierig kleinste Unebenheiten und schiefe Strassen sind, die man sonst nicht einmal bemerkt. Zweitens, wie höflich und hilfsbereit mir die Menschen begegnet sind, wo ich Hilfe gar nicht erwartete.»

«Es war gut, Teil der Stadt zu sein»

Fast schon «gefesselt» an den Rollstuhl fühlte sich Tamara Sennrich, aber: «niemand hat sich aufgeregt, dass ich den Weg versperrte.» Sie habe sich akzeptiert gefühlt. «Ich wurde auch gefragt, ob ich Hilfe brauche. Das fand ich sehr schön.» Doch es sei befreiend gewesen, wieder aus dem Rollstuhl aufzustehen. Tamara lebt selbst mit einem Handicap. Was ihr diesen Sommer zu schaffen macht, ist die Maskenpflicht. Sie ist aus medizinischen Gründen vom Tragen einer Maske dispensiert und wird deswegen oft «schräg angeschaut». «Einmal wurde ich sogar von der Security aus einem Einkaufszentrum weggewiesen, trotz meinem Arztzeugnis» erzählt die junge Frau.

Der Aktionstag in Aarau bot neben den Exkursionen auch Strassenmusik, Spiele für Kinder, Anleitung zu Achtsamkeit in der Begegnung und vieles mehr. Wer dem Treiben in der Stadt entfliehen wollte, konnte in der Stadtbibliothek den Märchenerzählerinnen Esther Wirz und Iris Meyer lauschen. «Bei uns geht es ums Zuhören und ums Achtsam-Sein», erklärt Esther Wirz. «In vielen Märchen begegnen die Protagonisten einem Zwerg oder einem anderen kleinen Wesen, das sie im Leben weiterbringt». Isabelle Deschler zieht ein positives Fazit: «Der Tag war bunt und bewegt. Es war ein fröhliches Stück Leben inmitten von Musik und Kindern, die barfuss gehen, Steine bemalen, zum ersten Mal auf Stelzen laufen. Es war gut, ein Teil des Treibens der Stadt zu sein. Spannend, wie sich auch ganz fremde Menschen ansprechen liessen und dann sogar bei mehreren Angeboten mitmachten.» Bleibt zu wünschen, dass wir künftig im Alltag alle ein wenig achtsamer werden.

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